Kaum hatten Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten die Öffnung von Geschäften bis 800 Quadratmeter beschlossen, kam vom Einzelhandel auch schon scharfe Kritik: "Dieser Schritt führe zu Wettbewerbsverzerrungen und Rechtsunsicherheiten", klagte der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE), Stefan Genth, am Mittwoch. Es gebe aus Sicht des Handels kein Sachargument für eine stufenweise Öffnung der Läden in der Coronakrise. Abstands- und Hygieneregeln könnten sowohl in kleinen als auch in großen Geschäften eingehalten werden.
Genth ist offenbar in den letzten Tagen in keinem Supermarkt gewesen. Denn sonst hätte er erlebt, wie wenig Menschen mit oder ohne Masken sich inzwischen um Abstände scheren. Zwei Kunden, die sich im Gang begegnen? Kein Problem. Da steht jemand direkt neben der Milch? Ich greife trotzdem ein Tetra-Pak. An der Kasse ist eine Schlange? Der Einkaufswagen sorgt schon für genug Abstand. Das Verhalten in Supermärkten erinnert inzwischen oft an eine Autobahnfahrt: Da zieht auch ständig jemand in den Sicherheitsabstand zum Vordermann.
Supermarktkunden vernachlässigen Abstand
Schon vor der Öffnung anderer Läden sind die Supermarktkunden wegen Corona abgestumpft. Nun gleich wieder von der "H&M"-Filiale bis zum Elektronikmarkt alles zu öffnen, wäre ein völlig falsches Signal der Normalität. Sicherlich können die Abstände auf größeren Ladenflächen eingehalten werden. Aber ist es realistisch, dass die Kunden das tatsächlich tun oder die Angestellten die Kunden deswegen zurechtweisen?
Es ist Genths Job als Branchenvertreter, sich um Umsatz und Arbeitsplätze im Einzelhandel zu sorgen. Aber 800 Quadratmeter entsprechen in Deutschland etwa der Größe einer Discounter-Filiale. Das ist also keine ganz kleine Verkaufsfläche. Die Begrenzung dürfte daher meist Filialen großer Ketten treffen. Der Job eines Angestellten bei einem Einzelhandelskonzern ist natürlich genauso erhaltenswert wie der Job in einem kleinen oder mittelständischen Unternehmen. Aber von Ketten und Konzernen kann man erwarten, dass ihre Finanzdecke stärker ist als die einer Boutiquebesitzerin in Erfurt oder eines Weinhändlers in Süderbrarup. Kleine und mittelständische Händler brauchen in der Coronakrise also mehr Schutz als etwa eine schwedische Möbelhauskette.
Umsatz wichtiger als Gesundheit?
Es in in unser aller Interesse, dass die deutsche Wirtschaft so gut wie irgend möglich durch die Coronakrise kommt. Wenn der Handel aber "Wettbewerbsverzerrungen" beklagt, dann stellt er den Schutz der Großen vor den der Kleinen. Und er stellt Umsatz über die Gesundheit von Angestellten und Kunden – und somit schlimmstenfalls über Menschenleben. Und das sind ja wohl kaum die richtigen Prioritäten.
Quellen: DPA, Statista zu durchschnittlichen Ladenflächen.