Das Camp, das ist das Ort…", stammelt der Junge. "…der Ort…", unterbricht ihn die Lehrerin. Auf den Tischen liegen aufgeschlagene Bücher. Die Schüler erzählen einen Jugendroman nach. "Der Buch heißt Löcher. Der Autör " Klassenlehrerin Birgitta Hillebrandt verbessert manchmal Wort für Wort. Jetzt wendet sie sich aufmunternd einem Mädchen zu, das stumm in der ersten Reihe sitzt. Zögernd murmelt es: "Das Zelt, das ist, wo schlaft, wo Freunde Gruppen sind."
Die sieben Mädchen und neun Jungen der Klasse 6 a der Johannes-Kepler-Ganztagesschule in Mannheim sind zwischen zwölf und 15 Jahre alt. Obwohl fast alle in Deutschland aufgewachsen sind, hangeln sie sich durch die deutsche Sprache wie durch dürres Geäst.
225 Kinder aus 22 Nationen werden an der Schule unterrichtet, nur 24 Prozent sind Deutsche. In der Kantine gibt es kein Schweinefleisch, im Ramadan werden die Kinder geschont, und im Schülercafé läuft türkische Musik.
Als die Klassenlehrerin der 6 a fragt, wie man jemanden nennt, der nicht lesen und schreiben kann, schlagen die Kinder "Nichtleser" und "Faulpelz" vor. "Sie strampeln sich ab, um gute Noten zu bekommen", sagt Birgitta Hillebrandt. Aber ihr Deutsch qualifiziert sie allenfalls zum Hilfsarbeiter.
Die altersschwache
Bundesrepublik allerdings braucht Ingenieure und Kaufleute, Programmierer, Chemiker, Biologen, sie braucht Grafiker, Künstler, Autoren und selbstbewusste Bürger. Dazu braucht es Kinder, die lernen. Und davon braucht es viele.
Doch nur eine Bevölkerungsgruppe wächst hierzulande, die der Migranten: 7,4 Millionen Ausländer, 3,2 Millionen Aussiedler und 1,3 Millionen Eingebürgerte, zusammen rund zwölf Millionen Menschen - also etwa jeder siebte Einwohner Deutschlands. Ihre Kinder sind in den Städten bald in der Mehrheit. Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hat errechnet, dass der Anteil junger Migranten in den Städten des Ruhrgebiets schon in den nächsten fünf Jahren auf über 40 Prozent steigen wird. Manche Kindergärten haben schon heute reine Ausländergruppen. Die Probleme ballen sich in Vierteln mit preiswerten Wohnungen, die zu Armenghettos werden. Zurück bleiben Alte, Ausländer, Alleinerziehende und Arbeitslose. Immer mehr Kinder werden in bildungsfernen und rückwärts gewandten Milieus aufwachsen.

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Wie viel Zündstoff in dieser Entwicklung steckt, haben auch die Kultusminister erkannt. Die neue Pisa-Länderstudie, aus der in diesen Tagen in Berlin erste Details vorgestellt werden, soll deshalb die Situation von Migrantenkinder so genau durchleuchten wie keine Studie zuvor. Schon jetzt zeigt sich, dass einzelne Bundesländer ihren Nachwuchs besser fördern als andere. Laut einer GEW-Untersuchung, die vorige Woche veröffentlicht wurde, bieten Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ihrem eingewanderten Nachwuchs bessere Lernbedingungen als etwa Nordrhein-Westfalen.
Bernd Böttig, Leiter der Berliner Eberhard-Klein-Schule, sagt, was andere wie eine Masernepidemie verschweigen: Seine Schule hat keinen Schüler, der zu Hause deutsch redet (siehe auch Kasten S. 114). Die Haupt- und Realschule liegt in Kreuzberg. Vor gut zehn Jahren noch waren "nur" die Hälfte seiner Schüler Migrantenkinder, vergangenes Jahr dann haben die letzten fünf deutschen Kinder die Schule verlassen. Der Rektor will auch keine neuen: "Weil die hier nicht glücklich werden, wenn sie nicht verstehen, was in der Pause geredet wird."
Viele Schulen und Kindergärten
in deutschen Großstädten besitzen einen Migrantenanteil von 80 Prozent und mehr. Als Faustregel gilt: Sind die 50 Prozent erst einmal überschritten, ist die Entwicklung kaum mehr umkehrbar. Wer seinem Kind eine gute Schulbildung ermöglichen will, zieht in einen anderen Stadtteil. Das hat nichts mit Ausländerfeindlichkeit zu tun, auch bildungsbewusste Einwanderer wandern in Viertel ab, in denen ihre Kinder bessere Chancen haben.
Antonia Rötger, Mutter von zwei Töchtern, ist in Kreuzberg geblieben. "Ich möchte meine Kinder nicht unter einer Glasglocke von Akademikerkindern aufwachsen lassen", sagt die Journalistin, die am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung arbeitet. Dort wurde die erste Pisa-Studie erstellt. In der steht schwarz auf weiß, dass sich kein Industrieland so wenig um seine Einwandererkinder kümmert wie Deutschland. Und dass schon bei einem Anteil von 20 Prozent das Leistungsniveau der ganzen Klasse sinkt. Bei einem Sprachtest für Berliner Vorschulkinder zeigte sich, dass mehr als 80 Prozent des ausländischen Nachwuchses Nachhilfe in Deutsch brauchen, um dem Unterricht folgen zu können.
Nächstes Jahr wird auch Antonia Rötgers jüngere Tochter in einer Kreuzberger Schule eingeschult. Von 125 Erstklässlern sind 100 Einwandererkinder. Ein kurioser Klassenkampf entbrannte. Die raren deutschen Kinder sollten nach einem Vorschlag der Erzieher "gerecht und gleichmäßig" auf die fünf Klassen verteilt werden. Eltern und Lehrer protestierten: Fünf deutsche auf 20 Migrantenkinder - das bringe die Schule zum Kippen. Dann würden deutsche Eltern ihre Kinder endgültig abmelden. Also werden die 25 nun auf zwei Klassen verteilt.
Migrantenkinder - eine Zeitbombe? Oder vielmehr eine Jahrhundertchance? Ein ungewohnter Gedanke für Deutschland, "nach den USA das wichtigste Einwanderungsland der Welt", wie das Berliner Institut für Weltbevölkerung und globale Entwicklung konstatierte. Und konservative Politiker beginnen zu begreifen.
"Wir müssen gucken,
dass aus den wenigen Kindern, die wir in unserer Stadt haben, etwas wird", sagt Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, CDU. Die Stadt besitzt nach Frankfurt den höchsten Ausländeranteil aller deutschen Großstädte und leidet zugleich an Überalterung. "Wir haben viermal so viele Autos wie Kinder in der Stadt", sagt Schuster.
Die wenigen, die viele Kinder haben, sind vor allem zugewanderte Familien. Einwanderer und Aussiedler machen schon jetzt 40 Prozent der jungen Stuttgarter Bevölkerung aus. Die Hälfte von ihnen besucht die Hauptschule, nur 20 Prozent das Gymnasium - bei den Deutschen ist das Verhältnis genau umgekehrt. Das wollen die Verantwortlichen im Stuttgarter Rathaus ändern. Stuttgart will die "kinderfreundlichste Großstadt Deutschlands" werden, die Ausbildung der Migranten wurde zur Chefsache erklärt. Die Frage lautet nicht mehr: Wie integrieren wir die ausländischen Mitbürger, damit sie sich wohl fühlen? Sondern: Wie integrieren wir sie, damit sie uns nützlich sind? Oberbürgermeister Schuster: "Wenn wir sagen, wir wollen die nicht, dann schaufeln wir unser eigenes Grab."
Wie Integration funktionieren kann, zeigt die Grund- und Hauptschule im Stuttgarter Stadtteil Ostheim. Schulleiterin Gudrun Greth hat gerade ein Mädchen aus Usbekistan aufgenommen, Nationalität Nummer 76 oder 77? Die Pädagogin weiß es nicht auf Anhieb. Doch die deutschen Eltern, die nur ein Viertel der Kinder stellen, wissen: Ihre Kinder werden hier intensiver gefördert als anderswo. Wie Matthias, der eine Lese-Rechtschreib-Schwäche hat und zusammen mit Ardit aus Albanien Englisch lernt. Ihre Förderlehrerin Lisanne Dorn ist jung, hübsch und geduldig: "Sag, wenn du etwas nicht verstehst, sag es dreimal, wir arbeiten langsam und gründlich."
Die Kinder dieser Schule haben Studenten an ihrer Seite, die ihnen in Gruppen mit maximal vier Schülern ein maßgeschneidertes Lernprogramm bieten, wenn es in Deutsch, Mathe oder Englisch hapert. In der achten Klasse dann helfen berufserfahrene Pensionäre wie die Verwaltungswirtin Margareta Weisenburger, 66, oder der Schichtleiter Jörn Hansen, 63, den Teenagern, einen Ausbildungsplatz zu finden.
Die Helfer "aus sozialem Antrieb",
wie es Margareta Weisenburger sagt, nennen sich "Seniorpartner". Sie wollen Frust abfedern, ihren Schützlingen Flausen ausreden, aber vor allem ihre Stärken herauskitzeln. Wie bei Serdal, er ist 15 und sehr still. Dafür organisiert er Fußballturniere, ist Schiedsrichter, vermittelt unter Schülern als Schlichter, "auch in schwierigen Situationen". Das schreibt ihm sein Coach in die Bewerbungsmappe.
"Alle Eltern wollen eine gute Bildung für ihre Kinder", sagt Gari Pavcovic, Chef der Stuttgarter Integrationsabteilung. Auf etwa fünf Prozent schätzt Pavcovic, selbst Migrant, den Anteil "reaktionärer Migranten" in Stuttgart - mit abnehmender Tendenz. "In Zeiten von Hartz IV könnnen es sich auch Fundis nicht mehr leisten, ihre Töchter zu Hause zu lassen."
Wie stark der Wunsch vieler Einwandererfamilien ist, über Bildung den Zutritt zur deutschen Gesellschaft zu finden, zeigt die neu gegründete Privatschule Bil im Gewerbegebiet von Stuttgart/Bad Cannstatt. Zwei fünfte Klassen mit jeweils zehn und 14 Kindern haben das erste Jahr gerade hinter sich, im Herbst kommen 40 neue dazu. "Ein Markt ist da", sagt Schulleiter Muammer Akin. In den Klassenzimmern hängen Regeln: "Ich bin immer pünktlich. Ich rede nicht mit meinem Nachbarn. Ich melde mich immer und rufe nicht rein." Zu den ungeschriebenen gehört: kein Türkisch, nicht einmal auf dem Schulhof. 210 Euro Schulgeld zahlen türkische Eltern pro Monat.
Einige schicken ihre Kinder bis zu 40 Kilometer weit in die neue Schule, weil sie dem ehrgeizigen Direktor mehr zutrauen als staatlichen Institutionen. Aufgenommen aber wird nur, wer eine Empfehlung der Grundschule fürs Gymnasium oder die Realschule vorlegen kann. "Deutsche Eltern können ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen. Türkische oft nicht", sagt Muammer Akin.
In diese Bresche springt die Schule. Mittags gibt es Essen, nachmittags Unterricht und Betreuung, nur der Freitagnachmittag ist frei. Islamunterricht gibt es nicht, "wir sind eine deutsche Schule". Akin hat auch schon die erste deutsche Schülerin: Lea, elf Jahre alt. Sie lebte mit ihren Eltern sieben Jahre in Saudi-Arabien und sprach auf der Internationalen Schule in Riad vor allem englisch.
Das beste Integrationsrezept
heißt immer noch: Deutsch - möglichst früh, möglichst viel. "Zehn Stunden pro Woche in der ersten Klasse sind das Minimum", sagt Gisela von Auer, Lehrerin an der Hellerhofschule in Frankfurt mit 83 Prozent Migrantenkindern. In ihrer Förderklasse warten jeden Morgen sechs Kinder mit türkischen und arabischen Eltern. Als sie im Herbst in die Schule kamen, konnten sie nur stockend sprechen. Moussa verstummte oft beschämt mitten im Satz, Erhan hielt die Bücher verkehrt herum, und Ahmad hatte zwar den Kindergarten besucht, sprach aber nur einzelne deutsche Wörter.
"Stumme Kinder" nennen die Pädagogen solche Schüler; Kinder, die sich in ihr Schneckenhaus zurückziehen, aus Angst, von anderen ausgelacht zu werden. Auch dem Mathe-Unterricht können sie nicht folgen, weil sie nicht verstehen, was die Lehrerin mit "füge drei hinzu" meint. Ihnen fehlen nicht nur die Wörter, es fehlt ihnen auch die Vorstellung dazu. Sie kennen Apfel und Banane, aber nicht den Oberbegriff Obst. Schulbücher sind für sie Bücher mit sieben Siegeln.
So spricht Gisela von Auer vor: "Neunundneunzig Eulen heulen in der Scheune." Sie lässt die Kinder so lange "eu-eu-eu-eu" sagen, bis der Mund ganz rund wird. Damit sie nicht wieder He-u lesen statt Heu. Ahmad springt an den Computer, um die neuen Wörter den richtigen Bildern zuzuordnen. Er fragt aufgeregt: "Wie viele Fehler hab ich?" Die Lehrerin antwortet: "Keinen."
1000 Euro kostet dieser Unterricht den Steuerzahler pro Kind und Jahr - eine Investition mit bester Rendite: Seit Beginn des Förderprojekts an drei Frankfurter Schulen blieb kein Kind mehr sitzen. 50 Prozent der Hellerhof-Grundschüler wechseln aufs Gymnasium, 25 Prozent auf die Realschule. "Früher wurden 30 Kinder pro Jahr wegen sprachlicher Mängel an diesen Schulen nicht versetzt", sagt Kenan Önen von der Hertie-Stiftung, die das Projekt unterstützt. "30 Kinder mit verbauter Zukunft."
Deshalb werden in Frankfurt
jetzt "Bildungskarrieren" geplant, die im Kindergarten beginnen und durchgängige Sprachförderung bis zum Abitur vorsehen. Die Stiftung will bundesweit eine "Zuwanderer-Elite" schaffen. 18 weitere Stiftungen und neun Kultusministerien sind schon gewonnen, "Start"-Stipendien gibt es inzwischen in fast jedem Bundesland (www.start.ghst.de). "Das ist die neue Elite, die Deutschland braucht", schwärmt Stiftungschef Roland Kaehlbrandt.
Einer dieser Hoffnungsträger ist Mehmet Gökkaya, 18, den die Stuttgarter Bosch-Stiftung sponsert. Er hat als einer der Besten seiner Klasse die Realschule abgeschlossen und kann sich nun das Gymnasium aussuchen, an dem er Abitur machen wird. Die Stiftung zahlt ihm bis dahin monatlich 150 Euro für Bücher und Kurse, hilft mit Rat und Kontakten.
Vor vier Jahren ist er mit seiner Mutter aus der Türkei nach Stuttgart gezogen, wo der Vater auf dem Großmarkt als Lagerarbeiter Gemüsekisten schleppt. Seine Cousins, in Deutschland geboren, sagten: "Du packst das nie mit der Sprache." Freunde lästerten: "Du bist kein richtiger Türke, du machst keinen Scheiß in der Schule." Mehmet wechselte von der Hauptschule, in der es nur einen Deutschen in seiner Klasse gab, zu einer anderen Schule, in der es nur zwei Türken gibt. Mehmet büffelte, das Wörterbuch neben sich, und versuchte Sätze zu verstehen wie "Berechne den Volumeninhalt des Körpers". Er sagt: "Ich brauche einfach diese Sprache."