Ein kleines Mädchen presst ein weißes Stoffschaf fest an sich. Ihre Schwester hält einen Bären und eine Tafel Schokolade. Willkommensgeschenke. Die Familie kommt aus Al-Hasaka in Syrien. 25 Tage waren sie unterwegs, sagt der Mann. Wie es weitergeht, ist völlig offen. Die Eltern und die beiden Mädchen stehen ratlos im dichten Gedränge am Münchner Hauptbahnhof. Fragend lächeln sie die Deutschen an, sie können nur wenige Worte Englisch.
Mehr als 10.000 Flüchtlinge werden allein an diesem Samstag in München erwartet. Die Stadt steht mit ihren Notkapazitäten vor dem Kollaps. München hat gut 5000 Notplätze. Rund 1500 Plätze seien am Morgen aus anderen Bundesländern gemeldet worden, aber bereits genutzt und damit vergeben. Für mehrere Tausend Menschen gab es somit zunächst keinen Platz. Händeringend wurde nach einer Lösung gesucht, auch in Kontakt mit den anderen Ländern. Der Regierungspräsident von Oberbayern, Christoph Hillenbrand, sagt: "Ich habe Sorge, ob wir das heute schaffen - und dann kommt der Sonntag." Und dann der Montag, der Dienstag - und weitere Wochen und Monate.
Lücke von mehreren tausend Plätzen
Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) spricht von einem "Gap", einer Lücke, von mehreren tausend Plätzen. "Wir wissen nicht mehr, was wir mit den Flüchtlingen machen sollen." Hillenbrand und Reiter machen keinen Hehl aus ihrem Ärger auf Bundesregierung und Bundesländer. "Es ist ein nationales Thema, das wir hier in München lösen", sagt Reiter. Er finde es seitens der anderen Bundesländer "absolut dreist, zu sagen: Wir sind am Anschlag". Wer so spreche, solle sich in München ansehen, was "am Anschlag" bedeute. Hillenbrand sagte, wenn andere am Limit seien, dann sei man hier schon einen Schritt Weiter.
An einem Seiteneingang des Bahnhofsgebäudes sitzt eine Frau mit ihren vier Kindern, zwei schlafen völlig erschöpft auf dem nackten Fußweg. "Syrien. War (Krieg)." Mehr Worte hat sie nicht. Es sieht nicht so aus, als ob sie wüsste, was sie nun tun soll.
In den Köpfen der Verantwortlichen entstehen schon weitere Notpläne. Man denke daran, Zelte aufzustellen, sagt Hillenbrand. Eine andere Lösung: "Die Formel kann heißen: Teppich plus Isomatte und Decke."
Länder und Kommunen in der Pflicht
Die Bundeskanzlerin und die anderen Länderchefs seien gefordert - und auch die Solidarität anderer Kommunen. "Jeder Zug, der 500 Flüchtlinge in eine andere Großstadt fahren kann, hilft uns weiter, hier in München ein Chaos zu vermeiden. Damit hier nicht der Hauptbahnhof überläuft."
Ein Zug aus Salzburg kommt an. An die 500 Flüchtlinge drängen in das Bahnhofsgebäude. An den Absperrgittern klatschen Passanten zur Begrüßung. Einer hat ein Schild auf Arabisch dabei, die Schrift ist umrahmt von EU-Sternen. "Es soll die Flüchtlinge willkommen heißen", sagt er.
Auch Claudia Roth ist gekommen. Die Grünen-Politikerin will es sich nicht entgehen lasen, Flüchtlinge willkommen zu heißen. Mitten im Gedränge spricht sie mit einer Familie aus Syrien. Niemand könne diese Menschen zurückschicken, sagt sie aufgebracht. "Aleppo ist kaputt." München beweise gerade, dass es "wirklich eine Stadt mit Herz ist". Jedoch sei Europa gefragt, sagt sie, und spricht von einem "Wettkampf der Schäbigkeit". "Es müssen wirklich alle ran", sagt Roth mit Blick auf die schleppenden Zusagen einiger Bundesländer zur Aufnahme von Flüchtlingen.

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700 bis 1000 freiwillige Helfer
Nicht nur begrüßen, sondern zupacken: 700 bis 1000 freiwillige Helfer haben sich gemeldet, verteilen Wasser, Bananen, Äpfel und Kekse an die Ankommenden. Kleidung stapelt sich hinter provisorisch aufgestellten Bierbänken. "Ich möchte fragen, ob wir noch etwas bringen sollen", meldet sich eine Frau. In Listen tragen sich weitere freiwillige Helfer ein. Menschen spenden Essen, Getränke und Kleidung. Manuela Geith ist seit Freitag im Einsatz. Eigentlich hat sie gerade Urlaub. "Ich kann mich jetzt nicht einfach in die Sonne legen - und es ist Chaos vor der Türe. Ich habe keine medizinische Ausbildung. Aber zwei Hände."
Dennoch sehen alle dem, was da noch kommt, mit Bangen entgegen. Die freiwillige Hilfe ist so dauerhaft nicht aufrecht zu halten. Kaum jemand kann wochenlang unentgeltlich helfen. Und die Stimmung kann kippen. Diese Fragen mag derzeit in München niemand näher besprechen. Erst einmal gilt es, den Tag zu bewältigen. Das Wochenende. Und dann die nächste Woche. Am nächsten Samstag beginnt das Oktoberfest. Das allein bedeutet für Bahn und Sicherheitskräfte einen Ausnahmezustand.