Es war wie immer bei Franz Müntefering. Überraschend. Völlig aus dem Blauen heraus. Den Knatsch mit SPD-Chef Kurt Beck vor wenigen Wochen, seine Niederlage in Sachen Arbeitslosengeld I, das alles schien er geschluckt zu haben. Schon auf dem Parteitag Ende Oktober schien er rhetorische wieder oben auf. Selbstbewusst. Aber, zack, am Dienstagvormittag überraschte Müntfering wieder. Um 10.41 Uhr lief die erste Agenturmeldung über den Nachrichtenticker: Müntefering tritt zurück. Aus "rein familiären Gründen", wie es hieß.
Seine Frau Ankepetra, das ist spätestens seit einem "Bild"-Titel vor einigen Wochen bekannt, leidet an Krebs. Kurze Zeit später bestätitgt ein Sprecher des Arbeitsministeriums die Meldung: "Franz Müntefering wird seine Funktionen als Arbeitsminister und Vizekanzler aus ausschließlich familiären Gründen niederlegen", sagte er. Darüber werde er am Nachmittag die SPD-Fraktion informieren. Als Nachfolger für das Amt des Arbeitsministers steht offenbar bereits der derzeitige SPD-Fraktionsgeschäftsführer im Bundestag, Olaf Scholz, fest. Nachfolger im Amt des Vizekanzlers soll Außenminister Frank-Walter Steinmeier werden. Das meldete am Mittag die "Berliner Zeitung" unter Berufung auf ein Mitglied der SPD-Führung.
Franz Münteferings Karriere
1966: Eintritt in die SPD
1975: Müntefering wird Mitglied des Bundestages
1992: Müntefering wird Arbeits- und Gesundheitsminister der NRW-Landesregierung.
Oktober 1998: Im ersten rot-grünen Kabinett unter Kanzler Schröder wird er Verkehrsminister.
September 1999: Das SPD-Präsidium bestimmt Müntefering für das neu geschaffene Amt des Generalsekretärs. Seinen Ministerposten gibt er ab.
März 2004: Kanzler Schröder gibt sein Amt als Parteivorsitzender an Müntefering ab.
September 2005: Nach der Bundestagswahl übernimmt er die Ämter als Minister für Arbeit und Soziales sowie des Vizekanzlers.
Oktober 2005: Nachdem sich Müntefering mit seinem Personalvorschlag für das Amt des Generalsekretärs nicht durchsetzen kann, kündigt er seinen Rückzug als Parteivorsitzender an.
Februar 2006: Das Bundeskabinett beschließt auf Vorschlag Münteferings einen beschleunigten Fahrplan zur Einführung der Rente mit 67.
Oktober 2007: In einer heftigen Debatte innerhalb der SPD über die von Parteichef Kurt Beck geforderten Veränderungen beim Arbeitslosengeld I muss Müntefering eine Niederlage einstecken. Er hatte ein striktes Festhalten an der Reform-Agenda gefordert.
13. November 2007: In der für Müntefering zentralen Frage eines Post-Mindestlohn gibt es im Koalitionsausschuss keine Einigung.
Müntefering trat immer stärker hinter Beck zurück
Münteferings Rücktritt könnte das Koalitionsgefüge vor eine harte Belastungsprobe stellen. Denn Müntefering, der Ex-Parteichef, war in den vergangenen Jahren zu einem verläßlichen Ansprechpartner für Kanzlerin Angela Merkel geworden. Lange galt er als Garant der Regierungsfähigkeit und Koalitionstreue der SPD im Bündnis mit der Union. Allerdings ist in Berlin im vergangenen Jahr auch beobachtet worden, dass Parteichef Kurt Beck für die Kanzlerin immer stärker erster Ansprechpartner wurde, Münteferings Einfluss zurückging. In der Partei musste sich Müntefering, der zu einem leidenschaftlichen Verfechter der Grundsätze der Agenda 2010 von Gerhard Schröder geworden war, eine Kehrtwende gefallen lassen: Beck setzte eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I durch - am Montagabend wurde dieses Ansinnen auch vom Koalitionsausschuss abgesegnet.
Eine weitere Schlappe, allerdings innerhalb der Koalition, erlitt Müntefering im Koalitionsausschuss, weil er sich mit dem Vorhaben eines Mindestlohns für Briefträger und Postbedienstete nicht durchsetzen konnte. Offen ist, wie sehr diese Niederlage Müntefering das Gefühl vermittelte, in dieser Koalition nichts mehr in seinem Sinne bewegen zu können. Schon am 4. November hatte Müntefering an einer Koalitionsrunde aus familiären Gründen nicht teilgenommen. Seine Frau Ankepetra musste sich in der vergangenen Woche zum wiederholten Mal einer Krebsoperation unterziehen.
"Er hatte von der Kanzlerin mehr Vertragstreue erwartet"
Als Reaktion auf den Rücktritt Münteferings sagte Johannes Kahrs, Sprecher des rechten "Seeheimer Kreis" in der SPD, zu stern.de: "Menschlich kann ich seinen Entschluss verstehen, politisch ist sein Rücktritt ein großer Verlust. Franz Müntefering ist ein äußerst kompetenter Minister den ich fachlich und menschlich sehr schätze. Wir müssen jetzt abwarten, wer ihm folgt."
Der Parteilinke Karl Lauterbach sagte stern.de "Seine private Situation hat bei der Entscheidung sicher eine große Rolle gespielt. Das verstehe ich. Auf der anderen Seite kann ich mir vorstellen, dass Franz Müntefering von der Bundeskanzlerin mehr Vertragstreue erwartet hätte. Beim Thema Mindestlohn hat sie ihn hängen lassen. Innenpolitisch hält die Union schon länger keine Zusagen gegenüber der SPD ein. Nichtsdestotrotz wird Münteferings Rücktritt nicht das Ende für die große Koalition bedeuten."
Offen ist derzeit noch, wer Müntefering im Amt des Arbeitsministers nachfolgen wird. Parteichef Beck scheidet offenbar aus: Die Nachrichtenagentur Reuters meldete am Dienstag mit Bezug auf Parteikreise, Beck wolle nicht in die Regierung wechseln, um nicht in die Kabinettsdisziplin eingebunden zu sein. Er sehe für die SPD und sich selbst bessere Profilierungschancen, wenn er Kanzlerin Angela Merkel und die Union von außen kritisieren kann. Müntefering hatte seinen Rücktritt aus familiären Gründen angekündigt. In Parteikreisen wird offenbar Fraktionsgeschäftsführer Olaf Scholz als heißer Kandidat für den Posten des Arbeitsministers gehandelt.