Haben sich die Berliner bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus von der Landespolitik oder eher von der Bundespolitik beeinflussen lassen? Das schlechte Abschneiden der bisherigen Regierungsparteien SPD und CDU bringt jedenfalls viele Kommentatoren deutscher Zeitungen ins Grübeln. War die Abstimmung eine Abstimmung gegen die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)? Oder ist sie ein weiteres Signal, dass die Zeiten der großen Volksparteien unwiederbringlich vorbei sind?
Die Kommentare im Überblick:
"Berliner Zeitung"
"Nie waren die Zeiten für gutes Regieren in Berlin so günstig. Die Probleme sind erkannt. Die Chancen liegen auf der Straße. Die wirtschaftlichen Bedingungen sind so gut wie in den vergangenen Jahrzehnten nicht. Das Steueraufkommen steigt. Berlin ist nicht mehr arm, es kann also den Mut aufbringen, nicht immer bloß sexy sein zu wollen. Die nächsten fünf Jahre können darüber entscheiden, ob aus Berlin ein wuchernder Moloch wird oder eine gestaltete Metropole. Wir können Vorbild dafür sein, wie unterschiedliche Kulturen gut zusammenleben, wie Flüchtlingen geholfen und wie sie integriert werden können. Berlin kann eine Stadt sein, in der man sicher und tolerant leben kann. Eine Stadt, die seine Bürger da unterstützt, wo sie es brauchen und sie da in Ruhe lässt, wo sie selbst zurechtkommen."
"Die Welt"
"Eine rot-rot-grüne Koalition ist das letzte, was die wirtschaftspolitisch desaströs geführte Stadt gebrauchen kann. Den Aufschwung und die Arbeitsplätze gibt es in Berlin trotz und nicht wegen der Politik, einfach, weil sich das anpackende Bürgertum von dem Irrsinn aus Regulierung und Unprofessionalität nicht erschrecken lässt. Die SPD wird nun mit ihrem uncharismatischen, mit jeder Sprechblase Provinzialität ausdünstendem Bürgermeister-Darsteller Michael Müller weitermachen müssen. Das Ergebnis ist schlecht, aber zum Aufstand nicht schlecht genug."

"Frankfurter Rundschau"
"Die wichtigste Botschaft: Das demokratische Deutschland wird sich dem Rechtspopulismus stellen müssen. Und zwar am besten nicht so, wie die CDU das tut. Sie hat an diesem Sonntag erneut die Prügel dafür bezogen, dass sie - auch ihre Vorsitzende Angela Merkel - sich zwischen Anpassung nach rechts und einer liberalen, weltoffenen Haltung nicht zu entscheiden vermag. Es ist schon eine besondere Pointe, dass die Kanzlerin jetzt abgestraft wird für eine angeblich flüchtlingsfreundliche Politik, die sie in Wirklichkeit längst wieder beendet hat, Stichwort: Türkei-Deal. Aber der Versuch der Union, sich den Abschottungsfantasien der AfD anzupassen, muss ebenso als gescheitert gelten. Es ist allerhöchste Zeit für eine große Anstrengung der Demokraten, das bisher leere Versprechen 'Wir schaffen das' mit Inhalt zu füllen."
"Spiegel Online"
"Und doch hat diese Wahl eine entscheidende Veränderung hervorgebracht. Gemeint ist damit nicht die Tatsache, dass nun, nach wochenlanger Plakatierung, erheblich mehr Berliner ihren auch künftig Regierenden Bürgermeister erkennen werden, sofern er ihnen einmal auf der Straße begegnen sollten, bis sein Gesicht und sein Name Michael Müller (SPD) in spätestens zwei Wochen wieder versinken im Hinterkopf und dort nur als vage Erinnerung vegetieren. Gemeint ist auch nicht der Müller vom Wähler aufgezwungene Koalitionswechsel zu Grünen und Linken: Es wird weniger henkelsche Polizeistaatsrhetorik geben, dafür mehr Cannabis- und Sozialromantik - mehr ist nicht zu erwarten."
"Hannoversche Allgemeine Zeitung"
"Für Angela Merkel und ihre CDU ist das Berliner Wahlergebnis noch schlimmer als das vor zwei Wochen in Mecklenburg-Vorpommern. In Schwerin kann die CDU immerhin rechnerisch weiter an der Regierung beteiligt werden. In Berlin dagegen reicht es schon nicht mehr für eine Große Koalition. Darin liegt eine historische Demütigung für die CDU nach vielen Jahrzehnten, in denen sie die Stadt dominierte. Merkel hofft auf Lerneffekte - und darauf, dass das Pendel bis zum Herbst 2017 generell zu ihren Gunsten zurück schwingt. Ein erster Schritt ist getan: Einem erstaunten bundesweiten Publikum wird jetzt vorgeführt, dass ein Erstarken der AfD unterm Strich zu Rot-Rot-Grün führen kann."

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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"Stuttgarter Zeitung"
"Das desaströse CDU-Ergebnis in Berlin heizt die unionsinterne Debatte nochmals an. Für Merkels Zukunft werden die nächsten Wochen bis zu den Parteitagen von CDU und CSU daher entscheidend sein. Gelingt bis dahin eine glaubwürdige Einigung, wird sie die Union auch in die Wahl 2017 führen. Wenn nicht, sind von der offenen Revolte gegen Merkel über ihren freiwilligen Rückzug bis zum Ende der CDU/CSU-Allianz viele Szenarien denkbar. Im Schatten dieser M-Frage hat Sigmar Gabriel mit einer weiteren gerade noch so verteidigten SPD-Bastion seine Position gefestigt."
"Kölner Stadt-Anzeiger"
"In der einzigen Weltstadt des Landes läuft nun alles auf eine rot-rot-grüne Regierung hinaus. Nun kann die Hauptstadt dem Rest der Republik zeigen, dass die 'rote Ampel' kein Bündnis zum Fürchten ist. Noch schreckt die SPD vor dieser Lösung auf Bundesebene zurück. Aber je weiter die Popularität der Kanzlerin schrumpft, umso größer die Versuchung für Sigmar Gabriel zu wagen, was bisher noch als Tabu zwischen ihm und dem Kanzleramt steht. Für das Land zeichnet sich eine spannende Versuchsanordnung ab. Kann die Perspektive einer Linksregierung es einen? Oder wird die Spaltung noch tiefer, als sie es jetzt schon ist? Wahrlich, wir leben in aufregenden Zeiten."
"Generalanzeiger"
"Prozentual nähern sich die Parteien an. Noch nie ist ein 'Wahlsieger' mit nur gut 20 Prozent über die Ziellinie gegangen. Damit werden Dreierkoalitionen nötig, was in Berlin auf Rot-Rot-Grün und bundespolitischen Rückenwind für die Linksoption hinausläuft. Hauptgrund für die Entwicklung ist freilich, dass sich die Alternative für Deutschland mit dem Einzug in das zehnte von 16 Länderparlamenten endgültig als neue Partei rechts der Union etabliert hat."
"Bild-Zeitung"
"Dieser Wahlkampf riss keinen vom Hocker. Es war ein Kampf ohne Aufbruchsversprechen. 61 Prozent trauten laut RBB-Umfrage keiner Partei zu, die Probleme der Stadt zu lösen. Eine Klatsche, die saß. Deshalb sackten SPD und CDU ab. Die AfD hat kassiert."
"Süddeutsche Zeitung"
"Die SPD in Berlin wäre stolz wie Bolle, wenn sie heute halb so stark wäre wie damals; ähnlich ist es bei der CDU. Die großen Parteien sind, nicht nur in Berlin, viel kleiner geworden; sie sind auch deswegen kleiner, weil neue Parteien gewachsen sind, die nicht einfach als politische Pigmentstörungen betrachtet werden können."