Lange galten Schulen nicht – zumindest nach Aussage der Bundesländer und Kultusministerien – als Orte mit verstärkter Ansteckungsgefahr. Inzwischen haben einige größere Corona-Ausbrüche, unter anderem an einer Hamburger Stadtteilschule, gezeigt, dass dem nicht so ist. Allein in der Hansestadt war einer Untersuchung zufolge die überwiegende Mehrheit der knapp 40 Infektionen auf einen Schüler zurückzuführen. Dennoch sollen Deutschlands Schulen in den kommenden Wochen weiter öffnen – allen voran in Nordrhein-Westfalen, das alle SchülerInnen noch vor den Osterferien zumindest tageweise wieder im Präsenzunterricht sehen will.
Martin Schulte (Name von der Redaktion geändert), Lehrer an einer Gesamtschule in NRW, sieht diese Pläne kritisch. Der wegen einer Vorerkrankung zu den Risikogruppen zählende Pädagoge sammelt seit gut einem halben Jahr Berichte über Covid-Fälle an Schulen – inzwischen auch von Kitas – und trägt diese in einer Karte zusammen. Sobald eine Einrichtung drei Infektionen innerhalb von 14 Tagen aufweist, vermerkt Schulte sie in seiner Karte (siehe Artikelende). Warum er täglich viel Zeit in sein Projekt steckt, welche Erkenntnisse er seither gewonnen und was die Politik in seinen Augen versäumt hat, erklärt Schulte im Gespräch mit dem stern.
Herr Schulte, in mehreren Bundesländern findet Schule seit knapp drei Wochen für jüngere Jahrgänge und Abschlussklassen als Wechselmodell aus Distanz- und Präsenzunterricht statt. Bei Ihnen in NRW sollen noch vor Ostern sogar alle SchülerInnen – zumindest eingeschränkt tageweise – an die Schulen zurückkehren. Wie sehen Sie das?
Ich finde die Idee des Wechselmodells grundsätzlich besser als komplette Präsenz. Aber ich verstehe nicht, warum man das jetzt noch so kurz vor den Osterferien macht. Meine Tochter zum Beispiel muss ihren gut funktionierenden Distanzunterricht aufgeben, um in einer der beiden Wochen in der Schule zu sein. In der anderen Woche aber können die Lehrer sie im Prinzip nicht betreuen, weil sie sich ja um die anderen Kinder kümmern müssen. Das lässt sich vermutlich auffangen, dennoch hätte ich, wenn ich es entscheiden müsste, bis nach den Ferien gewartet. Allein um zu sehen, wie sich die Inzidenzen angesichts der Mutationen entwickelt haben. Ich glaube, man tauscht gerade ein funktionierendes System gegen eines ein, das nicht unbedingt besser ist, sondern auch Nachteile und Risiken gegenüber dem Distanzunterricht hat.
Sicherheit für den Schulbetrieb sollen neben Impfungen auch regelmäßige Corona-Tests bei Schülern und Lehrkräften bringen. Sie gehören wegen einer Vorerkrankung zu den Risikogruppen. Würden Sie sich mit wöchentlichen Schnelltests sicher fühlen?
Auch das ist ein Punkt, warum ich die Überstürzung nicht verstehe. Die Tests sind ja noch nicht da, dennoch öffnen die Schulen schon. Bei uns in der Stadt können wir Lehrkräfte nicht wöchentlich, sondern alle zwei Wochen einen Gurgel-Test machen, was mir eine gewisse Sicherheit gibt, wenigstens meine Familie nicht anzustecken. Meine Schüler aber werden gar nicht getestet. Ich finde die Idee des regelmäßigen Testens gut – je häufiger, desto besser –, jedoch hätte man dafür erst die Voraussetzungen schaffen müssen, bevor man öffnet.
Zum Thema Impfungen: Es heißt immer, Lehrer seien geimpft. Ich bin es nicht und werde es trotz Vorerkrankung auch in naher Zukunft nicht, da ich an einer weiterführenden Schule tätig bin. Und auch meine SchülerInnen und Kinder werden nicht zeitnah geimpft sein. Das gibt mir also keine Sicherheit.

In einem Artikel des "Spiegel" berichteten Sie, dass es an Ihrer Schule seit Herbst eigentlich permanent Corona-Infektionen gegeben habe. Sind seit der Einführung des Wechselmodells weitere hinzugekommen?
In den letzten Wochen vor den Schulschließungen war es wirklich schlimm, es gab keine Woche ohne neue Fälle. Wir waren permanent damit beschäftigt, Kontakt zum Gesundheitsamt aufzunehmen und Leute in Quarantäne zu schicken.
Ich hatte die Hoffnung, dass es jetzt etwas besser sein wird, aber der erste Fall ist schon wieder aufgetreten – nach sieben Tagen Schule.
Das heißt, auch die ersten Schüler und Lehrer sind wieder in Quarantäne?
Nein, das nicht. Der Schüler, in dessen Familie mehrere Corona-Fälle aufgetreten waren, hatte Symptome, bei ihm wurde aber erst am vergangenen Samstag ein Abstrich genommen, weil er vorher nicht vor die Tür durfte. Die Schule konnte daher zunächst nicht tätig werden. Nachdem das positive Ergebnis vorlag, hat das Gesundheitsamt entschieden, keine Quarantänen zu verhängen, da der Schüler aufgrund des Wechselmodells an den beiden Tagen vor dem Auftreten der Symptome, die das Amt als für eine Ansteckung entscheidend betrachtet, nicht in der Schule war.
Seit etwa einem halben Jahr sammeln Sie deutschlandweit Berichte über Covid-Infektionen an Schulen, die Sie in einer Karte zusammenfassen. Was ist Ihre Motivation?
Ich habe den Eindruck, dass einfach zu wenig publik wird, wenn und dass Corona-Ausbrüche an Schulen stattfinden. Als es an der Schule meines Sohnes erste Fälle gab, wurden wir als Eltern noch nicht einmal darüber informiert. Wir mussten uns selbst um Informationen bemühen. Die Stadt, in der ich wohne und arbeite, gibt zum Beispiel keine Mitteilungen zu Infektionen an Schulen heraus. Das beobachte ich bei ganz vielen Städten und Landkreisen, manche weigern sich regelrecht. Dann gibt es aber auch Städte wie Düsseldorf, die vorbildlich sind und jeden Einzelfall veröffentlichen.
Mit meiner Karte will ich das Ausmaß des Problems anschaulich machen. Ich finde, wenn man Vertrauen in die ergriffenen Maßnahmen haben soll, dann muss man sich darauf verlassen können, dass über auftretende Probleme transparent informiert wird. Das aber liegt wirklich im Argen.
So mancher Fall dürfte nicht publik werden, weil die Eltern des betroffenen Kindes einer Veröffentlichung nicht zustimmen.
Ich habe mich bei meiner Stadt erkundigt und ein Argument für Nicht-Veröffentlichung ist tatsächlich der Datenschutz. Ich bin auf dem Gebiet sicher kein Experte, aber man sieht ja, dass einige Städte es komplett anders machen. So eindeutig kann es dann doch nicht ein Problem des Datenschutzes sein. Es geht auch nicht darum, dass Namen von infizierten Schülern in der Presse landen. Aber ich finde, wenn an einer Schule zehn oder 15 Corona-Fälle aufgetreten sind, dann sollten die Eltern und auch die Menschen in der Umgebung darüber informiert werden.
Sie haben Ihre erste Karte im vergangenen Jahr begonnen, mit dem Auftreten der Virus-Mutationen befüllen Sie nun eine neue Liste. Wie viele Infektionen haben Sie seither vermerkt?
Es sind schon jetzt mehr als 100 Kitas und etwa 80 Schulen, wo Mutationen für die Infektionen verantwortlich sind. Ich habe anfangs versucht, die Zahl der Gesamtfälle, auch Einzelfälle, festzuhalten, aber das führte zu nichts. Das Problem ist, dass offizielle Meldungen oder Medienberichte häufig zu unspezifisch sind. Meist ist die Rede "von mehreren Infektionen", die konkrete Anzahl der Infektionen oder ob diese durch eine Mutation ausgelöst wurden, ist oft nicht genannt.
Woher beziehen Sie Ihre Informationen?
Für Landkreise, die Daten herausgeben, habe ich mir eine Liste angelegt und scanne deren Seiten regelmäßig ab. Weitere Quellen sind Presseberichte oder Hinweise anderer Nutzer oder auch von Kollegen, die mir von Fällen bei ihnen berichten oder entsprechende Mitteilungen weiterleiten. Das ist ein sehr interessierter Kreis, der mit sucht und mich unterstützt.
Überprüfen Sie die Hinweise, die Sie von anderen bekommen?
Ich übernehme nur die Fälle in die Karte, die ich durch einen Pressebericht oder eine offizielle Meldung bestätigen kann. Es kommt aber auch vor, dass mir Schulmitteilungen zugeschickt werden, die intern bleiben sollen und es daher keinen öffentlich zugänglichen Beleg wie einen Artikel zur Überprüfung gibt. Solche Fälle führe ich die in meiner Karte mit entsprechendem Hinweis in einer gesonderten Kategorie auf.
Wie viele Fälle gehen Ihnen schätzungsweise durch die Lappen, weil Sie sie nicht mitbekommen?
Mein Gefühl sagt mir, dass ich nur einen kleinen Bruchteil aller Infektionen finde. Wenn man auf die Karte guckt, gibt es dort sehr viele weiße Flecken. Das sind alles Städte, die keine Daten veröffentlichen oder wo Fälle nicht öffentlich werden.
Ein weißer Fleck bedeutet also nicht zwingend, dass die Region oder Stadt keine Infektionen an Schulen oder in Kitas hat?
Nein. Umgekehrt fällt in der Karte beispielsweise eine große Häufung von Fällen in Thüringen auf. Dort gibt es aktuell auch sicher hohe Infektionszahlen, die vielen Einträge in der Karte liegen jedoch auch daran, dass jede Schule ihre Fälle meldet. Es sieht also so aus, als gäbe es dort ein verstärktes Problem, in Wirklichkeit wird aber einfach nur ehrlich gemeldet.
Welche Erkenntnisse haben Sie noch gewonnen? Gab es Auffälligkeiten oder Muster?
Größere Ausbrüche traten vor den letzten Schulschließungen und vor den Mutationen vor allem unter älteren SchülerInnen auf. Es gab so etwas zwar auch an Grundschulen, wie zum Beispiel in Hamburg. Aus meiner Erfahrung heraus waren von den großen Ausbrüchen damals aber vor allem Berufs- und weiterführende Schulen betroffen.
Aktuell, wo eher die Jüngeren an den Schulen sind und die Mutation um sich greift, nehmen die Fälle meinem Empfinden nach unter diesen Schülern und Kindern in Kindergärten deutlich zu. So gehäufte Ausbrüche an Kitas, wie ich sie in den letzten zwei Wochen wahrnehme, gab es vor drei Monaten nicht. Da waren es eher Einzelfälle, während es jetzt oft Ausbrüche sind, bei denen ganze Kitas geschlossen werden müssen, auch die Eltern erkranken und die Anzahl der Infizierten generell höher ist.
Haben Sie ein Beispiel?
Es gab in den letzten Tagen eine ganze Reihe von größeren Ausbrüchen an Schulen und Kitas, wo es hieß, dass sie in kleineren Gemeinden die Infektionszahlen in die Höhe getrieben hätten. Konkret fällt mir eine Kita in Südhessen ein, wo 49 Infektionen registriert wurden, darunter neun Fälle mit im Labor nachgewiesener britischer Mutation. Betroffen waren dort 19 Kinder, 13 Erzieher und 17 Angehörige. Der zuständige Landkreis führte die steigende Inzidenz in der Region auch auf die Wiedereröffnung von Kitas zurück.
Was wünschen Sie sich von den Verantwortlichen in der Bildungspolitik – für sich als Lehrkraft und für Ihre SchülerInnen?
Dass der Infektionsschutz an Schulen noch mehr Gewicht bekommt. Das jetzige Wechselmodell ist gut, weil wir in kleinen Gruppen arbeiten und nicht mit 30 Leuten im Raum sind. Es wurde in den letzten zwölf Monaten aber zu wenig unternommen, um uns darüber hinaus schützen. Wir haben keine Luftreiniger, wir haben kaum Tests. Man hätte viel machen können, stattdessen wurde immer nur geredet.
Wenn man sich anguckt, wie verhältnismäßig wenig eigentlich eine Ausstattung mit Luftreinigern kostet, dann verstehe ich nicht, warum das nicht gemacht wird. Schule ist für die Kinder sehr wichtig, Geld darf also keine Rolle spielen. Zumal die Politik immer betont, dass die Bildung nicht leiden darf. Dann müssen aber auch alle Voraussetzungen so sein, dass Schulen verantwortlich geöffnet werden können.
Sollten Sie Probleme bei der Ansicht der Karte haben, können Sie diese alternativ auch unter diesem Link abrufen. Martin Schulte informiert zudem auf seinem Twitter-Account über bestätigte Covid-Fälle an Schulen und Kitas in Deutschland.