Sozialwahlen Post für den Papierkorb

Ungläubig reiben sich die Bürger die Augen, wenn sie erfahren, dass derzeit "die größte deutsche Briefwahl" abläuft. Da alles ziemlich anonym und undurchschaubar ist, landet die Post häufig gleich im Papierkorb.

Stell Dir vor, es sind Wahlen, und keiner merkt es. Alle sechs Jahre erfolgen in Deutschland Wahlen, die nach Ansicht ihrer Kritiker dem Recht auf Mitsprache höchst unzureichend gerecht werden. Die Rede ist von den Sozialwahlen - genauer Sozialversicherungswahlen. Vor allem wegen ihrer Undurchschaubarkeit wird die Wahl mit Kosten von rund 50 Millionen Euro von vielen Bürgern nicht ernst genommen. Nach Ansicht von Experten sind Reformen unausweichlich, um der gesetzlich verankerten Mitbestimmung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung wieder öffentliche Anerkennung zu verschaffen.

Den mit Wahlen üblicherweise verbundenen hitzigen öffentlichen Wahlkampf gibt es nicht, wohl aber eine Kampagne: "Alle wählen. Für Rente und Gesundheit." Den Aufruf fanden rund 46 Millionen Wahlberechtigte vor Wochen im Briefkasten. Inzwischen haben sie erneut Briefe mit den Wahlunterlagen bekommen. Die Stimmzettel müssen bis spätestens 1. Juni zurückgeschickt werden. Portofrei, versteht sich.

Zweifel an Sinn und Zweck

Erstmals seit 1999 sollen die Versicherten wieder entscheiden, wer sie auf der Arbeitnehmerseite in den Selbstverwaltungsorganen von Renten- und Krankenversicherung vertritt. Auf dem Papier liest sich das gut, sind doch die Wahlen laut Gesetz "frei und geheim", und jeder nicht gewerkschaftlich gebundene Versicherte kann sich als potenzieller Kontrolleur seiner eigenen Versicherung selbst zur Wahl stellen. In der Praxis jedoch lasse das Wahlprozedere am Sinn und Zweck der Sozialwahlen zweifeln, sagen der FDP-Sozialpolitiker Heinrich Kolb und Steuerzahlerpräsident Karl Heinz Däke. Beide kritisieren vor allem die mangelnde Durchsichtigkeit des Wahlvorgangs.

Sozialwahlen

Gewählt werden nicht Einzelpersonen, sondern nur Listen, die von Verbänden aufgestellt wurden: Das sind meist Gewerkschaften, aber auch andere Verbände, in denen Arbeitnehmer und Versicherte organisiert sind. Richtig wählen dürfen nur Mitglieder der großen Ersatzkassen und der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA). Wer Mitglied bei der AOK, bei den Innungs- oder einer der Betriebskrankenkassen ist oder wer seine Rentenbeiträge an eine Landesversicherungsanstalt bezahlt, wird gar nicht gefragt. Dort treten DGB-Gewerkschaften, der Sozialverband VdK und die christlichen Gewerkschaften auf gemeinsamen Vorschlagslisten an. Es gibt genau so viele Kandidaten wie Mandate. Die Hälfte stellen die Arbeitgeber. In die Gremien der Selbstverwaltung zieht ein, wer auf der Liste steht.

Tatsache ist zum einen, dass der Versicherte zwar eine Liste seiner Gewerkschaft oder seiner Krankenkasse ankreuzen darf, wer jedoch seine Interessen dort als Person vertritt, bleibt weitgehend verborgen. Zudem lautet ihr Vorwurf: Die Verbände schieben sich Aufsichtsämter gegenseitig zu. Das Verfahren gebe dem Begriff "Selbstverwaltung" einen ganz neuen Klang. Die Vorwürfe seien "unberechtigt", kontert DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer. Sie verweist darauf, dass nur aufgestellt werde, wer auch kompetent sei und dass lediglich Ehrenämter zu vergeben seien.

Denn hinzu kommt, dass die allermeisten Selbstverwaltungsgremien ihre Mitglieder mit Hilfe einer so genannten Friedensliste bilden: Es wird gar nicht gewählt, sondern im Voraus von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen abgesprochen, wer und wie viele Anwärter welcher Liste angehören sollen. Das wird vom Gesetz ausdrücklich erlaubt: Die auf diesen Listen Vorgeschlagenen sind automatisch im Amt, wenn "insgesamt nicht mehr Bewerber benannt (sind), als Mitglieder zu wählen sind".

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Kaum Spielraum für Entscheidungen

Was nun die konkreten Wirkungsmöglichkeiten der so zusammengesetzten Selbstverwaltungsgremien und ihre Macht angeht, sind Arbeitnehmer- und Arbeitgeberlager schon seit langem frustriert. Der Sparzwang lässt ihnen so gut wie keinen Spielraum für Entscheidungen über Beitrag, Haushalt und Leistungskatalog, denn die wichtigen Beschlüsse treffen Regierung, Parlament und in der Folge die Sozialversicherungsvorstände. Mitsprache, die der Rede Wert sei, hätten die Vertreterversammlungen lediglich in den Bereichen Rehabilitation und Prävention, sagt Wilma Henneberg vom ver.di-Bundesvorstand und bedauert: "Der Gesetzgeber hat uns alles verwässert."

Dabei hatte unter Reichskanzler Otto von Bismarck 1881 alles so viel versprechend angefangen: Der Aufbau der Arbeiterversicherung, auch in Szene gesetzt, um der Sozialdemokratie politisch den Wind aus den Segeln zu nehmen, war mit einer schon damals verbürgten Selbstverwaltung verbunden. Damals, und nach der Nazi-Zeit auch in der jungen Bundesrepublik, galt mehr oder weniger das Motto: "Die Betroffenen wissen selbst am besten, wie sie das machen sollen."

Desinteresse der Versicherten

Das ist heute nur noch sehr bedingt der Fall. Die angesichts der Sozialwahlmisere (Wahlbeteiligung 1999: nur rund 38 Prozent) von Experten und Politik immer wieder geforderte Reform des Systems wird nicht zuletzt vom Bundeswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen, Hans-Eberhard Urbaniak, selbst befürwortet. Einer Belebung der Sozialwahlen stünden jedoch nicht nur leere Kassen und die undurchsichtige Tätigkeit und Zusammensetzung der Selbstverwaltung im Weg, sondern auch das dadurch zusätzlich geförderte Desinteresse der meisten Versicherten, heißt es in der DGB-Zentrale.

AP
Anselm Bengeser/AP