Der Glaube von Rot-Rot-Grün in Erfurt an die Zahl 46 ist unerschütterlich. So viele Stimmen brauchen die Koalitionäre beim Showdown am Freitag im Thüringer Landtag. Dann wäre Bodo Ramelow erster Regierungschef der Linken. Das bundesweit umstrittene rot-rot-grüne Regierungsexperiment in Thüringen hätte seine Feuertaufe bestanden und die CDU wäre nach 24 Jahren an der Macht in die Opposition geschickt. Dabei wissen alle, ein einziger abtrünniger Abgeordneter kann das Dreierbündnis bei der geheimen Abstimmung erschüttern, im schlimmsten Fall gar platzen lassen. Denn Linke, SPD und Grüne haben im Parlament nur eine Stimme mehr als CDU und AfD.
Die Angst vor einem Abtrünnigen, einem "Bodo-Mörder", ist daher groß. Erinnerungen an Schleswig-Holstein werden wach, böse Erinnerungen. Damals, 2005, fiel Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein Heide Simonis so einem "Mörder" zum Opfer. Bei ihrer Wiederwahl scheiterte sie in vier Wahlgängen, weil ihr stets mindestens eine Stimme aus dem eigenen Lager fehlte.
Ramelow, der Jahre auf den Einzug in die Staatskanzlei hingearbeitet hat, gibt sich jedoch gelassen: "Die Mehrheit von 46 Stimmen im ersten Wahlgang steht", glaubt der 58-Jährige. Wochenlange Verhandlungen scheinen die Protagonisten von Rot-Rot-Grün einander näher gebracht zu haben. Vom dritten Wahlgang, den er vor Wochen nicht ausschloss, will der Frontmann der Linkspartei nun nichts mehr wissen.
Angst vor "SED-Staat"
Rot-Rot-Grün stehen die CDU als Wahlgewinnerin mit 34 Sitzen und die rechtspopulistische AfD mit 11 gegenüber. Offen ist, ob die CDU - sie stellt seit 24 Jahren den Ministerpräsidenten in Erfurt - Ramelow das Feld fast kampflos überlässt. CDU-Chefin und Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht hat entschieden: Sie geht nicht als Gegenkandidatin in die "Arena des Löwen". Ob sie damit Ramelow meint, der mit Hochachtung von der Pfarrerin spricht, ist ungewiss.
Weder sie noch ihr innerparteilicher Dauerkonkurrent, Fraktionschef Mike Mohring, können sich aller CDU-Stimmen sicher sein. Und einen Mohring-Versuch, mit Hilfe der AfD an der Macht zu bleiben, will die Bundesspitze nicht. Kurz vor Ultimo bringt die CDU noch Jenas parteilosen Ex-Uni-Rektor Klaus Dicke ins Spiel, der im dritten Wahlgang ein Angebot für Abweichler von Rot-Rot-Grün sein könnte. Der 61-Jährige sagt, offiziell sei er noch gar nicht gefragt worden. "Ich denke nicht, dass ich mich verweigern würde." Bisher wolle er sich die Ministerpräsidentenwahl jedoch im Fernsehen anschauen.
Seit Tagen versuchen die Gegner von Rot-Rot-Grün, die Ramelow-Wahl ausgerechnet 25 Jahre nach der friedlichen Revolution gegen das SED-Regime zu verhindern: Mit Demonstrationen im Kerzenschein wie im Wendeherbst, mit Appellen an das Gewissen der Abgeordneten und halbseitigen Zeitungsanzeigen.
Darin wird schon mal ein "SED-Staat in der Mitte Deutschlands" heraufbeschworen und schweres Geschütz aufgefahren: "Ich verstehe nicht, dass ausgerechnet die Abgeordneten der SPD und Bündnis 90/Grüne den Gefängniswärtern von gestern die Schlüssel wiedergeben wollen", lässt sich der Gründer des Jenaer Software-Unternehmens Intershop, Stephan Schambach, zitieren. Der Sozialdemokrat Gerd Schuchardt, in den 1990er Jahren Vize-Ministerpräsident, warnt vor den "SED-Enkeln".

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Pragmatische Politik
Dabei liest sich das Regierungsprogramm, das Linke, SPD und Grüne aufgeschrieben haben, nicht sehr viel anders als das bisherige von Schwarz-Rot. In der Präambel wird die DDR als Unrechtsstaat qualifiziert und eine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit versprochen. Wenn Ramelow nach der Rückkehr des Sozialismus in Thüringen gefragt wird, schüttelt er genervt den Kopf. "Wir machen eine pragmatische Politik."
Auch sonst will der ehemalige Gewerkschaftsfunktionär, der 1990 von Hessen nach Thüringen kam, nicht als der Sozialist in der Staatskanzlei gelten. "Ich bin nicht das linke Aushängeschild, sondern das Aushängeschild von Rot-Rot-Grün. Das ist mein Traum."
Es geht um eine Regierung der Superlative: Ein Dreierbündnis aus Linke, SPD und Grünen gab es noch nie in einem Bundesland. Die regierungserfahrenen, aber vom Wähler gestutzten Sozialdemokraten sind erstmals Juniorpartner der Linken, die in Thüringen seit 1990 nur die Oppositionsrolle kennt. Und die Grünen, mit 5,7 Prozent gerade so im Landtag geblieben, freuen sich über die erste Regierungsbeteiligung in Ostdeutschland seit 16 Jahren.
SPD-Chef Andreas Bausewein, der der Linken die drei wichtigen Ministerien Inneres, Wirtschaft und Finanzen abgehandelt hat, spricht von einem Wagnis: "Es braucht Mut, den Schritt ins Ungewisse zu gehen." Spekuliert wird, ob die unter Verschluss gehaltene Kabinettsliste oder juristische Scharmützel mit Landtagspräsident Christian Carius (CDU) beim dritten Wahlgang den Regierungswechsel gefährden könnten. Zumindest die Grünen, die ihre beiden Minister benannt haben, machen sich Sorgen. "Ich hoffe mal, die beiden anderen Parteien stimmen ihre Personalvorschläge auch mit ihren Fraktionen ab", mahnt Grünen-Chef Dieter Lauinger.