Werden Menschen mit Behinderungen in Triage-Situationen benachteiligt? Diese Befürchtung hatten Betroffene und reichten eine Klage beim obersten Gericht ein. Anderthalb Jahre später haben die Richter ein Urteil gefällt. Wenig überraschend: Menschen mit Behinderungen dürfen auch in extremen Situationen im Krankenhaus nicht benachteiligt werden. Der Gesetzgeber muss nun Leitlinien erarbeiten, nach denen sich die Mediziner in Triage-Situationen richten können. Das politische Echo fiel positiv aus. Menschen mit Behinderungen dürften nicht benachteiligt werden, sagte etwas Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Sein Ministerium werde zeitnah einen Gesetzesvorschlag vorlegen.
Zwiespältig ist dagegen die Meinung der Presse. Manche sehen die Politik eindeutig in der Pflicht. Andere sehen diese Abwägung als ehtische Kernaufgabe der Medizin. Und wieder andere halten die knappen Ressourcen in den Kliniken für das eigentliche Problem und fragen: Warum muss es in Deutschland überhaupt zur Triage kommen? Das Presse-Echo im Überblick:
Die Politik kann sich "nicht mehr wegducken"
"Handelsblatt" (Düsseldorf): "Die Politik hat es in der Pandemie zu einer gewissen Meisterschaft gebracht, Unerfreuliches wegzudelegieren. Gastwirte und Arbeitgeber kontrollieren die 2G- oder 3G-Regel und leisten so mehr oder weniger freiwillig ihren Beitrag zum Gesundheitsschutz. Fluggesellschaften überwachen, dass Passagiere sich an die Einreisebestimmungen halten. Und die Entscheidung über Leben und Tod auf überlasteten Intensivstationen wird Ärzten überlassen. Dieses Wegducken in einer existenziellen Frage ist nach dem Triage-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts künftig nicht mehr möglich."
"Hannoversche Allgemeine Zeitung": "Dieses Urteil hätte sich der deutsche Gesetzgeber ersparen können. Immer wieder war in den vergangenen Monaten – vor allem, wenn es eng wurde auf den Corona-Intensivstationen – über die möglicherweise notwendige Triage spekuliert worden. Im Bundestag tat sich hingegen leider nichts in dieser Frage. Jetzt haben die Karlsruher Richter sie gezwungenermaßen beantwortet."
"Osnabrücker Zeitung": "Seit Pandemie-Beginn wird vor Triage-Situationen gewarnt. Doch bedurfte es eines Karlsruher Urteils, um den Bundestag wachzurütteln. Das Parlament kann natürlich nicht im Einzelfall entscheiden, wer gerettet wird und wer nicht. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde verbietet es, Leben gegen Leben abzuwägen. Es darf also nur um die kurzfristig höhere Überlebenswahrscheinlichkeit gehen. Die Leitlinien der Intensivmediziner geben Orientierung, doch reichen sie eben nicht aus, um im Ringen um Leben und Tod eine Benachteiligung etwa aufgrund von Behinderungen auszuschließen. Die Verfassungsrichter fordern wohlgemerkt keinen strikten Kriterienkatalog. Der Bundestag könnte auch Verfahrensvorgaben wie ein Mehraugen-Prinzip gesetzlich vorschreiben. Nur wegducken, das kann er sich nicht mehr."
Das eigentliche Problem sind die Ressourcen
"Rhein-Neckar-Zeitung": "Der eigentliche Knackpunkt ist womöglich ein anderer: Wie kann es sein, dass Deutschland überhaupt an den Rand der Triage kommt? Wieso werden nicht so viele Reserven vorgehalten, dass dieses Land auch eine Pandemie nach den Regeln des hypokratischen Eides bewältigen kann? Die Pflegekräfte laufen davon? Vielleicht sollte sich die Gesellschaft dann darauf einigen, dass das Personal in der Pflege und in der Intensivmedizin so gut bezahlt wird wie IT-Spezialisten. Und wenn schon marktwirtschaftliche Kriterien im Gesundheitswesen angelegt werden, dann wären auch höchstattraktive Coronazulagen angebracht. Möglicherweise würde sich so das Problem relativieren, dass Impfunwillige in Gesundheitsberufen das System ins Wanken bringen. Die Wertschätzung sollte jedenfalls nicht mit einem Lob für dieses Urteil enden. Denn darin wird nur eine Selbstverständlichkeit beschrieben."
"Badische Neueste Nachrichten" (Karlsruhe): "Am Ende steht indes eine Erkenntnis, die leider nicht neu ist, die im Lichte der Karlsruher Entscheidung aber erneut wütend macht: Würde es genügend Intensiv-Betten und Personal in den Krankenhäusern geben, müsste niemand Angst haben, in einer Triage aussortiert zu werden. Für plötzliche extreme Notlagen wie einen Flugzeugabsturz mag das nicht gelten. Die Pandemie jedoch wütet schon seit zwei Jahren. Es war genug Zeit, die nötigen Kapazitäten zu schaffen. Das Gegenteil ist passiert. Intensivplätze wurden abgebaut, das medizinische Personal ist völlig erschöpft und kündigt scharenweise. Die Politik hat hier schon vor Corona versagt, sie hat während der Pandemie nicht gehandelt. Vielleicht hilft die Karlsruher Entscheidung dabei, damit jetzt endlich etwas passiert."
"Neue Züricher Zeitung": "Der Entscheid des Gerichts ist der Schlussakkord eines Jahres, in dem die deutsche Regierung mit ihrer Corona-Politik das Vertrauen der Bürger verspielt hat. (...) Regierung und Parlament werden nun bald nachbessern, immer in der Hoffnung, dass es nie zum Ernstfall kommen wird. Eine Art stille Triage findet aber längst statt. Weil Patienten mit Covid-19 zeitweise fast ein Viertel der Intensivbetten belegten, mussten Operationen verschoben werden. Das betraf auch Menschen mit Tumoren oder anderen bedrohlichen Erkrankungen. Diese stille Triage ist eine Folge der schrumpfenden Zahl an Intensivbetten, der tiefen Impfquote und der verspäteten Booster-Kampagne. Die Ungeimpften haben ihren Anteil daran, die Hauptverantwortlichen sind aber die politischen Entscheidungsträger. Ihre manchmal chronisch wirkende Zögerlichkeit hat das Bundesverfassungsgericht nun mit deutlichen Worten gerügt."

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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"Reutlinger General-Anzeiger": "Natürlich ist dieses Urteil zu begrüßen, das vor allem bei Sozial- und Behinderten-Verbänden für Erleichterung sorgt. Aber eigentlich ist es auch selbstverständlich. Jeder Mensch ist gleich viel wert. Würde dieser Schutz nicht bestehen, würde reiner Darwinismus herrschen, wenn also nur noch der Stärkste überlebt. Das wäre eine Bankrott-Erklärung für unsere Gesellschaft. Doch von diesen Verhältnissen sind wir glücklicherweise weit entfernt."
Letztendlich bleiben die Mediziner verantwortlich
"Ludwigsburger Kreiszeitung": "Mit ihrer Entscheidung pochen die Richter in Karlsruhe auf das Grundgesetz, wonach Menschen mit Behinderung nicht benachteiligt werden dürfen. Das ist ein gutes Zeichen in Zeiten, in denen der Solidargedanke auch im Gesundheitssystem bisweilen infrage gestellt wird. (...) Allerdings suggeriert der Auftrag zur gesetzlichen Regelung, es könne einen fixen Katalog geben, nach dem Mediziner schematisch vorgehen könnten. In Wahrheit werden sie auch künftig belastende Einzelfallabwägungen treffen müssen – und benötigen dazu einen gewissen Vertrauensvorschuss. Dem dient die Mahnung aus Karlsruhe wenig. Der Gesetzgeber wird zudem auf ethisch umstrittenes Terrain gezwungen, soll Regeln schaffen, ohne bestimmtes Leben "wertvoller" zu nennen als anderes."
"Rheinpfalz" (Ludwigshafen): "Es ist kaum vorstellbar, dass der Bundestag etwas Besseres findet als das Divi-Prinzip, wonach jeder Kranke nach seinen konkreten Erfolgschancen beurteilt wird. Hier muss das Parlament nun Sicherheiten einbauen – und doch den Ärzten die Freiheit zur Diagnose lassen. Es wird Kämpfe geben, welche chronische Krankheit wann als Behinderung gilt. Es wird der alte Streitpunkt auf den Tisch kommen, ob man jemanden tötet, wenn man ihn zugunsten eines chancenreicheren Patienten vom Beatmungsgerät nimmt."
"Aachener Zeitung": "Weder die Karlsruher Richter noch der Gesetzgeber können letztlich den Ärztinnen und Ärzten die Entscheidung im konkreten Fall abnehmen. Die zu treffen, gehört unvermeidlich zu dem schweren ärztlichen Beruf. Justiz und Politik sind nicht in der Lage, medizinische Maßgaben zu formulieren. Niemand sollte aus dem Richterspruch den falschen Schluss ziehen, Behinderte und Nichtbehinderte würden in derart dramatischen Notfällen nicht gleich behandelt. Die Ärzteschaft entscheidet da – wie bei der Organspende – nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit und berücksichtigt dabei Begleiterkrankungen. Dass die Intensivmediziner nicht nach den selbst gesetzten Maßgaben, sondern nach ethisch unvertretbaren Kriterien handeln, wäre ein ungeheuerlicher und unbegründeter Vorwurf."
"Badische Zeitung" (Freiburg): "(...) eine gute Entscheidung. (...) Jedoch kann niemand den Medizinern die Letztverantwortung für die Beurteilung medizinischer Sachverhalte aus der Hand nehmen. Kein Gesetz der Welt kann die Stresssituation aus der Welt schaffen, die es für das Klinikpersonal bedeutet, rasch über die Verteilung der intensivmedizinischen Ressourcen zu entscheiden. Strittige Entscheidungen sind erwartbar. Deshalb muss der Staat nun der Versuchung widerstehen, zu kleinteilig in den medizinischen Prozess der Entscheidungsfindung einzugreifen."