Bisher war Dioxin der breiten Öffentlichkeit nicht so geläufig. Bekannt war nur, dass dieses edle Zeug in alten Eichenfässern auf Höhe des Grundwasserspiegels gelagert wird und im Laufe der Jahre in vernünftigen Dosen sich durch die Fasswände frisst und gemächlich versickert. Wie Dioxin schmeckt und in welchen Gerichten es sein Aroma am besten entfaltet, wurde nicht mal in Feinschmeckerkreisen thematisiert. Und ebensowenig, dass das Dioxin-Schwein insgeheim Deutschlands Antwort auf das Kobe-Rind ist.
Seit kurzem ist Dioxin aber der große Hit. Binnen weniger Tage hat sich das Zeug quasi zum Kokain des kleinen Mannes hochgearbeitet. Diverse kulinarische Zirkel scheinen jedoch überrascht, in welcher Produktvielfalt sich das Dioxin mittlerweile im Handel präsentiert. Was wiederum eine naive Sicht auf die Dinge darstellt. Denn selbstverständlich war es ja auch das Anliegen der Produzenten, Dioxin flächendeckend dem deutschen Konsumenten zur Verfügung zu stellen. Sonst hätte man es ja gleich mit Kohlensäure versetzen und der Dritten Welt als Red Bull für Arme für zwei Euro pro Dose verscherbeln können.
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Nichtsdestotrotz reagiert die Bundesregierung ein bisschen übersensibel auf das Dioxin-Coming out. Die Kommentare waren derart negativ, dass der geneigte Zuhörer schon gar nicht mehr klar entscheiden konnte, ob tatsächlich von Dioxin die Rede war und doch nicht vom Euro. Sollte Dioxin wirklich mithalten können mit dieser Währung, die alles Übel der europäischen Welt in sich zu vereinen scheint? Da Merkel & Co. allergisch gegen Langzeittests sind, wurde deshalb sofort die Verbraucherschutzministerin Aigner darauf angesetzt. Den Euro darf sie zwar wider besseres Wissen und Gewissen nicht verbieten, aber beim Dioxin kann sie sich nach Herzenslust austoben. Gerade in Fragen der Ernährung ist Ilse Aigner schon fast überkompetent. Zum einen ist sie aus Bayern, dem Hort der Lebens- und Gaumenfreude. Zum anderen ist sie gelernte Radio- und Fernsehtechnikerin. Somit hat sie also sehr viel Nahrungsmittelwerbung aus Funk und TV intus. Mit diesen Vorkenntnissen kann die Lebensmittelindustrie der Ministerin nichts vormachen. Dementsprechend flott und souverän hat Ilse Aigner reagiert. In Zukunft dürfen im Futtermittel nur erlaubte Ingredienzen rein. Zudem soll es auch so etwas wie eine Kontrolle geben. Die Zeiten, in denen die Abfälle aus der Chemieindustrie zu 100 Prozent als Geschmacksverstärker in Fertiggerichten dienten, sind passé. Selbst Sterneköche müssen nun wieder zu billigem Glutamat greifen, wenn sie ihrem gewöhnlichen Gourmet-Debakel eine besondere Note verleihen wollen.
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Der Verbraucher freut sich natürlich über eine Ministerin, die in Rambo-Manier durchgreift. Glücklicherweise hat ihr die Kanzlerin die lange Leine gelassen und den Tatendrang der Elektromeisterin nicht gebremst. Sie würde die Lage sehr aufmerksam beobachten, ließ Aigner all jene Kritiker wissen, die ihr lethargisches Zuschauen unterstellten. Und kurz darauf haut sie ein Statement raus, das wohl sehr bald ein eigenes Mahnmal bekommen wird: Es besteht keine akute Gefahr für die Gesundheit.
So kann sich Deutschland tatsächlich freuen, endlich wieder mal politisches Personal zu haben, das über eine Vision verfügt. Während die Kanzlerin von den europäischen Kollegen hängen gelassen wird und somit sich als weltweit aktivste Feuerwehrfrau im Dauereinsatz betätigen muss, kann Aigner sich hinstellen und verkünden, wie sie sich das Deutschland der Zukunft vorstellt: "Ich bin für eine flächendeckende, aber auch flächenbezogene Landwirtschaft." Dieser Satz könnte von John F. Kennedy stammen. Wäre Berlin damals nicht geteilt gewesen, hätte ihn JFK sicher auch gebracht. Umgekehrt hätte es aber Aigner überhaupt nichts genutzt, wenn sie sich mit einem Glas 2010er Dioxin neben einem niedersächsischen Mastschwein postiert und verkündet hätte: "Ich bin ein Berliner."
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Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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Nein, Aigner musste ihren eigenen Weg in die Geschichtsbücher finden. Und sie tut es auf ihre Art. Flächendeckend und flächenbezogen soll es also in die Zukunft gehen. Mit Decke und Bezug sozusagen. Und das Ganze auch noch in der Fläche. Wie es sich für ein ordentliches Bett gehört, das seinem Insassen Wärme und Ruhe spenden soll. So nimmt Aigner den Bürger mit ins Boot beziehungsweise ins Bett. Statt wieder mal über untätige Politiker zu schimpfen, erfreut sich der Durchschnittsmensch seines Lebens und hat im Geiste schon die nächste Schweinehälfte aus Niedersachsen im Gefrierfach. Und Frau Merkel soll sogar schon über eine Einführung von Dioxin-Bonds zur Rettung des Euro nachdenken.