WÄHLERVERHALTEN PDS »beißt sich durch die Mauer«

Wahlforscher haben bei der Analyse der Berlinwahl festgestellt, dass es immer noch gravierende Unterschiede zwischen dem Ost- und dem Westteil der wiedervereinigten Stadt gibt. Von einer Annäherung kann keine Rede sein.

Beim Wählerverhalten ist Berlin nach einer Analyse des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap auch elf Jahre nach der Wiedervereinigung noch geteilt. Im Osten hat am Sonntag fast jeder zweite die PDS gewählt, im Westen liegt die SPD wieder klar vor der CDU. Die PDS hat die jüngste Wählerschaft und die meisten Wähler mit Abitur.

»Nach Hamburg wird nun auch in Berlin eine Partei den Regierungschef stellen, die weniger als 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt. Die großstädtischen Wähler reagieren sensibel auf Vernachlässigung ihrer Interessen und vor allem auf Verfehlungen. Diesmal traf der Wählerunmut die CDU, die für die Bankenaffäre eine herbe Quittung erhielt. Sie verlor 17,1 Prozentpunkte und rangiert mit 23,7 Prozent nur noch knapp vor der PDS, die auf 22,6 Prozent kommt. Dies ist der größte Stimmenverlust, den die CDU jemals bei Landtagswahlen in der Bundesrepublik erlitten hat.

CDU-Mitglieder nennen Steffel »Fehlbesetzung«

Der neue Spitzenkandidat Frank Steffel konnte dem Eindruck einer abgewirtschafteten Diepgen/Landowsky-CDU keinen personellen und programmatischen Neuanfang entgegensetzen und wurde bis weit in die eigenen Reihen als Fehlbesetzung angesehen. Der Bundes-CDU kann diese Schlappe kaum angelastet werden. Es fehlten aber die positiven Impulse, um das sich abzeichnende Desaster abzuwenden.

Die SPD legte um 7,3 Prozentpunkte zu, verfehlte aber mit 29,7 Prozent ihr Wahlziel von 30 Prozent plus X. Der Erfolg der Sozialdemokraten beruht auf mehreren Faktoren:

Sie profitierten von der Schwäche der CDU, das Hauptmotiv für den Wechsel von CDU zu SPD war die Bankenaffäre und die Haushaltslage der Stadt. Klaus Wowereit konnte in seiner kurzen Amtszeit als Regierender Bürgermeister des Übergangssenats beträchtliches Ansehen gewinnen: 62 Prozent halten ihn für einen guten Bürgermeister.

SPD genießt bundespolitischen Rückenwind

Zu dem Bonus des Amtsinhabers kommen Kanzlerbonus und bundespolitischer Rückenwind. Die Berliner sind sehr zufrieden mit Schröders Krisenmanagement im Zusammenhang mit den Terroranschlägen. Die Berliner SPD war letztlich diejenige Partei, der die Berliner in den ihnen wichtigen Bereichen Arbeitsmarkt, Haushaltskonsolidierung und Schutz vor terroristischen Angriffen die größte Kompetenz zusprachen.

Traditionelle CDU-Wähler wechseln zur FDP

Die FDP erreichte 9,9 Prozent und damit einen Zugewinn von 7,7 Punkten. Sie profitierte in erster Linie von der Schwäche der CDU, wie der größte Wählerstrom der Wanderungsbilanz von 85.000 Wählern zwischen CDU und FDP belegt. Für sechs von zehn FDP-Wähler war die CDU diesmal wegen der Bankenkrise nicht wählbar. Besonders wichtig waren FDP-Wählern darüber hinaus strategische Motive: Etwa 80 Prozent wollten mit ihrer Entscheidung eine Beteiligung der PDS an der Regierung in Berlin verhindern sowie für ein liberales Gegengewicht im Senat sorgen. Zudem ist die FDP unter dem neuen Vorsitzenden Guido Westerwelle bundesweit im Aufwind, was auch der Berliner FDP zugute kam.

Der dritte Gewinner bei dieser Wahl ist die PDS mit einem Plus von 4,9 Prozentpunkten. Sie erzielt in Ost-Berlin mit 47,6 Prozent (+8,1) nahezu die absolute Mehrheit und ist damit stärker als die anderen vier Senatsparteien zusammengenommen. Dieser Wahlerfolg ist Ausdruck des erklärten Willens vieler Ostberliner, in herausgehobener Position an der Gestaltung der Geschicke Berlins beteiligt zu werden. Jeder zweite hätte sich bei einer Direktwahl des Regierenden Bürgermeisters für Gregor Gysi entschieden. Gysi steht für die PDS-Wähler nicht nur für die bessere Vertretung Ostberliner Interessen, er verkörpert vor allem die gelungene Selbstbehauptung von Ostdeutschen im vereinten Deutschland.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Grünen-Anhänger wechseln zur PDS

Einen zusätzlichen Schub erhielt die PDS durch die US-Angriffe gegen Afghanistan. Für 7 von 10 PDS-Wähler war die ablehnende Haltung der PDS gegenüber dem Militäreinsatz ein ausschlaggebendes Motiv für ihre Wahlentscheidung. Dies hat dazu geführt, dass auch ehemalige Wähler der Grünen vornehmlich aus den westlichen Stadtbezirken diesmal die Sozialisten wählten und damit der PDS dort erstmals über die 5-Prozent-Hürde verhalfen. Insgesamt ist dieser Wahlerfolg für die PDS aber weniger Ausdruck des Protestes von Vereinigungsverlierern und Kriegsgegnern sondern der erklärte Wille der PDS-Wähler, mit Sitz und Stimme im künftigen Berliner Senat vertreten zu sein.

Die PDS hat bei der Neuwahl in Berlin am Sonntag nicht nur sämtliche Direktmandate im Ostteil der Stadt erobert, sondern lag auch im Westen erstmals stabil über fünf Prozent. Dies geht aus dem am Montag veröffentlichten Bericht des Landeswahlleiters hervor.

Nach Bewertung von Parteienforschern ist die PDS dabei, die westliche Wahlbezirke über Berlin-Mitte zu erobern. »Die PDS beißt sich durch die Mauer«, zitierte der stellvertretende Landeswahlleiter Horst Schmollinger die Statistiker.

Leichte Verluste für die Grünen

Die Grünen mussten mit 9,1 Prozent nur leichte Verluste von 0,8 Prozentpunkten hinnehmen. Sie verloren zwar den vierten Platz an die FDP, haben aber keine so spektakulären Verluste wie bei den vorhergehenden Landtagswahlen zu verzeichnen. Die parteiinternen Auseinandersetzungen kosteten sie zwar Stimmen im alternativen Milieu, ihre Stammwähler konnten sie jedoch halten. Letztlich überwog die Zufriedenheit mit der Arbeit der Grünen im Senat und das Vertrauen in ihre Problemlösungskompetenz in den für grüne Wähler zentralen Bereichen Umwelt, Ausländer, Verkehr und Bildung.

Struktur der Parteianhänger wenig verändert

Die Wanderungsbilanz von Infratest dimap zeigt vier große Wählerbewegungen: Die CDU verliert an die FDP rund 85.000, an die SPD rund 60.000, an die PDS rund 30.000; und die SPD gewinnt per saldo rund 15.000 Wähler von den Grünen. Beim Volumen dieser Ab- und Zuwanderungen ist es erstaunlich, wie wenig sich die Struktur der Parteianhänger verändert hat. Die Stimmenanteile der Parteien sind in allen Bevölkerungsgruppen in ähnlichem Umfang nach oben beziehungsweise nach unten gegangen, die Profile aber sind ähnlich geblieben. Das gilt für das Sozialprofil und für die Altersstruktur.

Wie schon bei der letzten Wahl ergibt sich dabei eine bemerkenswerte Polarisierung mit den beiden Volksparteien auf der einen Seite, den drei anderen (PDS, Grüne und Liberale) auf der anderen. In der Wählerschaft der SPD, aber mehr noch der CDU sind vor allem die »kleinen Leute« anzutreffen.

Zusammen haben diese Parteien rund 70 Prozent der Wähler mit einfacher Schulbildung hinter sich, aber nur rund 40 Prozent der Wähler mit Abitur. Die drei anderen Parteien erreichen diesmal bei den Leuten mit Abitur rund 55 Prozent, bei denen mit einfacher Schulbildung nur 25 Prozent.

Junge Wähler mit guter Schulbildung

Unter den Wählerinnen und Wählern mit Abitur ist die PDS heute in ganz Berlin mit 29 Prozent stärkste Partei. Auch in den Altersgruppen gab und gibt es gravierende Unterschiede. Bei den über 60-Jährigen kommen CDU und SPD zusammen auf fast zwei Drittel der Stimmen, die anderen drei Parteien auf etwas über 40 Prozent. Bei den Jungwählern (bis 24 Jahre) dagegen müssen sich die beiden Volksparteien mit rund 40 Prozent begnügen, die drei anderen verfügen hier über eine sichere absolute Mehrheit. In dieser jüngsten Altersgruppe liegt die PDS mit rund 30 Prozent in ganz Berlin klar auf Platz 1.

Diese Berliner Wahl hat eine extreme Fragmentierung des Parteiensystems zur Folge gehabt. In keinem anderen Bundesland, weder im Westen noch im Osten, ist es bisher vorgekommen, dass die stärkste Partei nicht einmal 30 Prozent der Stimmen erhalten hat. Für den Ost- und den Westteil der Stadt ergibt sich allerdings ein ganz verschiedenes Bild.

Von einer gegenseitigen Annäherung der beiden Teile kann, was das Wählerverhalten angeht, keine Rede sein. Vor zwei Jahren hatte die CDU in Westberlin, die PDS in Ostberlin nahezu alle Wahlkreise erobert. Die Dominanz der PDS im Osten ist diesmal noch erdrückender geworden: Auch die beiden CDU-Direktmandate sind diesmal zur PDS gewandert. In Westberlin hatte die SPD vor zwei Jahren kein einziges Direktmandat, diesmal hat sie es auf 26 gebracht, 7 mehr als die CDU. In Berlin insgesamt hat die PDS jedoch mit 32 gewonnenen Wahlkreisen 6 Direktmandate mehr als die SPD.

Im Schicksal der drei Bürgermeister-Kandidaten spiegelt sich auch die Entwicklung ihrer Parteien wider. Alle drei hatten sich diesmal um ein Mandat beworben. Klaus Wowereit hat in seinem Wahlkreis (Lichtenrade im äußersten Süden der Stadt) einen großen persönlichen Erfolg insofern erzielt, als er bei den Erststimmen einen enormen Zuwachs von 16 Punkten verbuchte und den Vorsprung des CDU-Bewerbers von rund 38 Punkten (1999) fast auf Null reduzierte. Am Ende aber fehlten ihm zum Direktmandat immer noch 0,8 Punkte. Frank Steffel konnte seinen Wahlkreis (Frohnau-Hermsdorf im äußersten Norden) zwar halten, bei den Erststimmen verlor er aber gegenüber 1999 über 21 Punkte, und bei den Zweitstimmen hat hier die CDU mehr verloren - und die FDP mehr gewonnen - als in jedem anderen Wahlkreis.

Einen doppelten Triumph ganz eigener Art konnte Gregor Gysi feiern. In seinem Wahlkreis (Marzahn-Hellersdorf 5) erreichte die PDS durch seine Kandidatur den größten Zuwachs aller Wahlkreise bei den Zweitstimmen (+ 10,7 Punkte) und er selbst ein beträchtliches Erststimmenplus von fast 6 Punkten. Wichtiger aber war, dass Gysi als Spitzenkandidat auf allen Stimmzetteln für die Zweitstimme auf Platz 1 zu finden war. Dies dürfte entscheidend dazu beigetragen haben, dass die PDS in Ostberlin mehr Zweit- als Erststimmen errungen hat.