Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik hat eine deutsche Tageszeitung eine klare Empfehlung zur Bundestagswahl getroffen. »Trotz aller Bedenken bietet die Union die besten Aussichten für eine Politik, die Wachstum und internationale Integration in den Mittelpunkt stellt«, schreibt die »FDT« in einem Leitartikel mit dem Titel »Zeit zum Wechsel«. Eine direkte Wahlempfehlung ist in Deutschland eigentlich nicht üblich, das Blatt orientiert sich dabei an Traditionen aus dem Ausland
Die »Financial Times Deutschland« überschreitet nach Ansicht des Medienwissenschaftlers Siegfried Weischenberg mit ihrer direkten Wahlempfehlung die Grenzen des Journalismus. »Journalisten sollen informieren, kritisieren, kontrollieren und orientieren - nicht aber missionieren«, sagte der Leiter des Instituts für Journalistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Hamburg der dpa. Er bezeichnete die Aktion des Wirtschaftsblatts als eine »Bevormundung der Leser«.
Aufmerksamkeit erregen
Die Wahlempfehlung sei in erster Linie eine »Marketing-Strategie«, sagte Weischenberg, der von 1999 und 2001 Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes war. »Die «Financial Times Deutschland» ist - was die Auflage betrifft - ja nicht gerade in aller Munde. Seit sie diese Geschichte machen, ist sie es.« Es gehe der Chefredaktion wohl darum, die Aufmerksamkeit neuer Leserkreise zu wecken, die Auflage zu steigern und mehr Anzeigenkunden zu gewinnen. Die Anfang 2000 gestartete FTD verkaufte im zweiten Quartal diesen Jahres etwa 83 000 Exemplare.
In den USA und Großbritannien längst bekannt
Nach Auffassung Weischenbergs ist die Wahlempfehlung, die in den USA und Großbritannien Tradition hat, ein weiterer Schritt in der »Amerikanisierung« des deutschen Wahlkampfes und der deutschen Medien. »Zuvor haben wir beobachtet, wie die Auftritte der Politiker immer professioneller wurden, wie das Fernsehen in der politischen Berichterstattung wichtiger wurde und sich Wahlwerbung und Produktwerbung mehr und mehr anglichen.«
»Wir sollten nicht alles naiv aus Amerika kopieren, zumal selbst dort Wahlempfehlungen höchst umstritten sind«, sagte Weischenberg. Die USA hätten zudem eine andere Zeitungslandschaft und ein anderes politisches System als Deutschland: »Die Amerikaner wählen ihren Präsidenten direkt, in Deutschland votiert man für Parteien.« Eine Wahlempfehlung habe deshalb in Deutschland weniger Sinn.
Auflagenstarke Zeitungen werden der FTD nicht folgen
Nach Ansicht des Medienexperten werden dem Beispiel der FTD zukünftig nur vereinzelte, auflagenschwache Zeitungen folgen. »Es haben sich bereits eine Reihe prominenter Chefredakteure anderer Tageszeitungen dagegen ausgesprochen.« Auflagenstärkere Zeitungen würden einen Teil ihrer Leser vor den Kopf stoßen, sprächen sie sich für eine bestimmte Partei, eine bestimmte Koalition und einen bestimmten Kanzler aus.