Fragt man Christine Binzel, was sie veranlasst hat, ein Manifest gegen die deutsche Israel-Politik zu verfassen, antwortet sie: "Die Verzweiflung ist der Antrieb." Binzel ist an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Professorin für Volkswirtschaft mit dem Schwerpunkt Nahost. Sie verfolgt den Krieg Israels gegen die Hamas im Gaza-Streifen aus persönlichem und professionellem Interesse. Sie sagt: "Hier läuft gehörig was schief."
Aus Binzels Sicht war der israelische Krieg nach den Anschlägen der Hamas vom 7. Oktober sehr bald kein reiner Anti-Terror-Kampf mehr. Vielmehr richteten sich die Angriffe auch gegen die Zivilbevölkerung. Dafür habe es frühzeitig Signale gegeben, "auf die man hätte reagieren müssen", sagt Binzel. Man – das ist aus ihrer Sicht die Bundesregierung. Vor allem müsse man Kriegsverbrechen, wo sie begangen würden, auch als Kriegsverbrechen kennzeichnen.
Gemeinsam mit Macartan Humphreys, Politik-Professor am Berliner Wissenschaftszentrum (WZB), und Steffen Huck, Professor für Volkswirtschaft ebenfalls am WZB, schrieb Binzel ihre Kritikpunkte auf. Der wichtigste: Deutschland mache sich zum Zeugen, wenn nicht zum Mitschuldigen an Kriegsverbrechen der israelischen Armee im Krieg gegen die Hamas im Gaza-Streifen. Ausdrücklich halten die drei Autoren in ihrem Text Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) vor, zwar die Einhaltung des Völkerrechts einzufordern, Verstöße aber nicht zu benennen. "Es ist allerhöchste Zeit, dass sich die Bundesregierung vehement für die universelle Anwendung des Völkerrechts und den Schutz der Menschenrechte einsetzt, auch wenn dies bedeuten sollte, das Verhalten der aktuellen israelischen Regierung zu verurteilen und zu sanktionieren", heißt es.
Israel-Schreiben soll an Bundesregierung übergeben werden
Es ist das erste Manifest deutscher Wissenschaftler in Verbindung mit dem Gaza-Krieg – und ein bedeutsames Zeichen für die wachsende Kritik an der proisraelischen Politik in Deutschland.
Binzel, Humphreys und Huck sammeln nun Unterschriften. Sie verbreiten ihr Manifest über die üblichen Netzwerke und richten sich dabei an deutsche Sozialwissenschaftler im In- und Ausland und ausländische Sozialwissenschaftler an deutschen Universitäten. Kurz nach Ostern hatten sie bereits mehr als 120 Unterschriften gesammelt.
Adressat des Schreibens ist nicht die israelische Regierung, sondern die Bundesregierung. Binzel und ihre Co-Autoren wollen vor allem vermeiden, dass Deutschland gegen Werte verstößt, die es seit Gründung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg vertreten hat. Demnächst soll das Schreiben an die Bundesregierung übergeben werden.
"Höchste Zeit, den Kurs zu ändern"
Anders als andere Kritiker des israelischen Krieges in offenen Briefen, verurteilen die Unterzeichner auch die Verbrechen des 7. Oktober. "Die Hamas hat abscheuliche Angriffe auf Zivilisten verübt und hält weiterhin zivile Geiseln, darunter auch Kinder, fest. Diese und andere Handlungen verstoßen gegen das humanitäre Völkerrecht", heißt es. Dies erkläre auch "Deutschlands weitestgehend vorbehaltlose politische und militärische Unterstützung" für die israelische Reaktion. Doch die Strategie der bedingungslosen Unterstützung Israels sei gescheitert. Es sei "höchste Zeit, den Kurs zu ändern".

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Die Unterzeichner kritisieren die Bundesregierung in mehreren Punkten. So mache sich Deutschland mindestens zum Zeugen von Kriegsverbrechen. Die Lage in Gaza sei katastrophal, heißt es in dem Papier. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) seien fast 2 Millionen Menschen vertrieben worden. "Schätzungsweise 100.000 Menschen sind tot, verletzt oder vermisst, die meisten von ihnen Kinder und Frauen." Zudem sei ein großer Teil der zivilen Infrastruktur, einschließlich vieler Gesundheits- und Kultureinrichtungen, angegriffen und an vielen Orten buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht worden.
Die Bundesregierung scheine jedoch "nicht anzuerkennen, dass diese Katastrophe ein von Menschen verursachtes Ereignis ist, und kein unvermeidbares oder unvorhersehbares Ereignis", schreiben die Verfasser. Und dann: "Israel hat das Grauen in Gaza einkalkuliert." Belege für Kriegsverbrechen seit Beginn der israelischen Offensive seien nicht nur von internationalen Beobachtern, sondern sogar von der israelischen Armee selbst dokumentiert worden. Diese Situation erfordere "eine klare Benennung und Verurteilung der unrechtmäßigen Gewalt und Zerstörung und die Bereitschaft, Maßnahmen zu ergreifen, die weitere Völkerrechtsverstöße sanktionieren und idealerweise verhindern".
Regierung verspiele internationales Ansehen
Der zweite Vorwurf lautet, die Bundesregierung schwäche entgegen ihrer erklärten Politik die internationalen Institutionen. Als ein Beispiel nennt das Manifest die Erklärung Deutschlands zur Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Völkermord. So habe die Bundesregierung bereits vor der Vorlage von Beweisen durch den Kläger erklärt, die Vorwürfe seien nichtig. "Die Frage für Deutschland lautet: Welchen Preis ist es bereit, den internationalen Institutionen aufzuerlegen, die es in der Vergangenheit so sehr unterstützt hat, um Israel vor Kritik zu schützen?"
Die Wissenschaftler widersprechen zudem mit historischen Beispielen unter anderem aus Vietnam und Nordirland der Annahme, dass das Ausmaß des israelischen Angriffs und die hohe Zahl an toten Zivilisten geeignet sei, die Hamas zu zerstören. Durch die Unterstützung von Strategien, die nicht im Einklang mit den eigenen Zielen stünden, werde Deutschland aber seiner historischen Verantwortung nicht gerecht. Deutsche Politiker verstünden die Sicherheit Israels als Teil der Staatsräson und hätten dies zum Teil so interpretiert, dass Deutschland den israelischen Staat auch dann unterstützen muss, wenn es mit dessen Vorgehen nicht einverstanden sei. Dies sei jedoch keine effektive Strategie. Sie habe vielmehr "die deutsche Mitschuld bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht riskiert, mit wenig bis gar keinen Aussichten auf eine mittel- bis langfristige Verbesserung der Sicherheit Israels".
Nach Binzels Ansicht geht es nicht nur um die unmittelbaren Folgen im Verhältnis Deutschlands zu Israel. Vielmehr verspiele die Bundesregierung über Jahrzehnte gewachsenes internationales Ansehen.