Marktplatz: Die Hauptstadtkolumne Politik, Gesellschaft, Wirtschaft: Die Krise in der Krise in der Krise

Eine Collage aus den Krisen der heutigen Zeit
© Illustrationen: Veronique Stohrer; Fotos: Adobe Stock (4); Getty Images (3); Laif; EPA; AP (2); Reuters (3); Mauritius; action press(2); dpa; Imago (2); Adora Press; Shutterstock
In diesem Krieg liegen viele Forderungen scheinbar auf der Hand. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Ja, unsere Zukunft ist plötzlich von einer diffusen Düsterkeit.

Olaf Scholz spielt mit seinen Gesprächspartnern gern ein unausgesprochenes Spiel: Ich sehe was, was du nicht siehst. Vor allem, wenn Journalisten dumme Fragen stellen, was sie natürlich meistens tun, lässt er die Anwesenden spüren, dass sie etwas nicht verstehen (was er längst durchdacht hat) und nicht antizipieren (was er längst voraussieht).

Dieses Spiel ist seit dem Kriegsausbruch an Grenzen gekommen, weil Scholz’ Kommunikation versagt. Die Form der schweigenden Überheblichkeit funktioniert nicht mehr. Annalena Baerbock liefert die Klarheit, Robert Habeck Einordnung, Überbau und Zweifel gleich mit. Der Kanzler liefert Unsicherheit in unsicheren Zeiten. Zumindest wirkt er so.

Nichts ist mehr klar und einfach. Wo man hinschaut sieht man nur: Krise

Was aber nicht heißt, dass er die Dinge nicht mehr voraus und zu Ende denkt. Wir haben in diesem Konflikt nämlich nur scheinbar Klarheit und eindeutige Lösungen. Auch wenn es bei der Frage nach schweren Waffen oder einem Gasstopp eindeutige moralische Imperative zu geben scheint. Wir haben im Grunde nur eine Wette laufen, eine fragile Wette der Hoffnung, während zerstört und getötet wird: dass es bald Frieden gibt, wenn Russland nur genug geschwächt ist. Was aber bedeutet das, wenn nicht mal klar ist, was Sieg und Niederlage heißen wird, in einem Krieg, der auf der einen Seite nicht einmal Krieg heißt?

Nichts ist klar und einfach. Ja, ich finde die Lage sogar nachgerade verworren und diffus, und das gilt nicht nur für das Kriegsgeschehen, sondern für die ganze Weltwirtschaft, wo seit Anfang des Jahres die Hoffnung auf Erholung, ja ein endlich Corona-freies Wachstum in eine diffuse Düsterkeit umgeschlagen ist. Der Internationale Währungsfonds hat die Prognosen gerade alle gekappt, für Deutschland nahezu halbiert. Auch die Bundesregierung hat ihre Wachstumserwartungen diese Woche von 3,6 auf  2,2 Prozent reduziert - und gleich darauf hingewiesen, dass das plötzliche Ende der russischen Gaslieferungen direkt in die Rezession führen würde.

Manchmal weiß man gar nicht mehr, wo man sein Entsetzen und seine Sorge hinrichten soll – wir schauen auf Butscha und Mariupol, natürlich, aber nicht mehr auf Shanghai oder Shenzhen. Krisenmanager, ob in der Politik oder in Unternehmen, erinnern dieser Tage an die Musikanten in Fußgängerzonen, die fünf Instrumente gleichzeitig spielen. Krisen ballen sich, überlagern sich, verknoten sich. Eigentlich ist es ein Wunder, dass Lieferketten überhaupt noch Ketten sind und nicht Partikel und Fetzen.

Die Gefahr eines Wohlstandbruches könnte Europa zerreißen

Ich unterstelle dem Kanzler, dass er diese Gefahr vor Augen hat, von Kettenreaktionen, Kaskaden von Effekten, seien sie nun geopolitisch, militärisch – oder bei der Energieversorgung. Auch da klingt alles erst mal einfach und eindeutig: Gasstopp sofort! Mehr Windräder, mehr Solar, mehr Wärmepumpen plus schwimmende LNG-Terminals. Wirklich? Experten bezweifeln, dass man die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt kurzfristig und dann auf Dauer so fahren kann; das ist, als würde ein Sportler mit einem Tropfständer zum Marathon antreten.

Wir reden hier nicht über Dellen, die man mit Kurzarbeit und KfW-Krediten ausbügelt. Diese Gefahr eines Wohlstandsverlustes, ja Wohlstandsbruches, ist real, nicht nur auf Deutschland begrenzt. Sie könnte Europa zerreißen. Unsere Energieversorgung taumelt an einem Abgrund.

Ich stelle mir Scholz vor, wie diese Szenarien ständig in ihm flackern. Was er uns nicht spüren lassen sollte. Was nicht heißt, dass es falsch ist, abzuwägen oder zu zögern, wenn man in der Sache gegenüber Moskau klar bleibt: Mit Putins Russland wird man keine Geschäfte mehr machen. Abwickeln, so schnell es eben geht, entflechten, was zu eng verflochten war, raus da, abschreiben. In mancher schnellen Forderung liegt indes eine Illusion, ein Selbstbetrug auf der Zeitschiene: Wir sagen zwar, dass die Krise epochal ist, Jahrzehnte prägen wird. Viele hoffen aber, dass der grauenhafte Spuk bald vorbei ist. Im Sommer, wie bei Corona. Dieser Krieg ist keine Welle.

Erschienen in stern 18/22