Zwischenruf Coup mit sechs Kugeln

Joschka Fischer spielt Billard: Sein Entschluss, 2006 noch einmal an der Seite Gerhard Schröders anzutreten, erweist sich als Trickstoß mit rasanten Wirkungen. Aus stern Nr. 37/2003

Billard um halb sechs. Mit einem einzigen, kunstvoll verdeckten Stoß schickt er am frühen Abend dieses denkwürdigen Tages seinen Spielball über den grünen Filz, versenkt mit sanftem Klick zwei andere Kugeln elegant im Loch, treibt drei weitere, die eng beieinander lagen, auf bizarren Bahnen auseinander und schickt eine sechste ins taktische Niemandsland. Joschka Fischer meldet sich mit Aplomb zurück am Billardtisch der deutschen Politik, und sein Trickstoß, ein Meisterwerk strategischer Kinetik, verändert die Lage dort grundlegend. Keine Kugel liegt mehr so, wie sie vordem lag.

Das Publikum indes tut sich schwer, die Folgen dessen zu begreifen, was in dieser einen Minute passiert ist, am Donnerstag, dem 28. August 2003, um 17.30 Uhr. "Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Außenminister Joschka Fischer (Grüne) wollen nach Angaben aus Regierungskreisen bei der Bundestagswahl 2006 gemeinsam nochmals antreten", meldet die Nachrichtenagentur Reuters. Und schlussfolgert, ganz und gar falsch: "Damit dürfte auch eine Kandidatur Fischers für das Amt des europäischen Außenministers vom Tisch sein."

Grinsend über den Wochenmarkt

Dem kommt die waghalsige Fehlinterpretation freilich gerade recht, verschleiert sie doch seine neu justierten Ambitionen. Zwei Tage später, am Samstagvormittag, schlendert der Spieler, getarnt unter einer Baseballkappe, mit triumphierendem Grinsen und in heiterster Gelassenheit über den Wochenmarkt am Berliner Kollwitzplatz - auf der Suche nach belastungsfähigen Bratpfannen für die häusliche Küche. Bis 2006, mindestens, wird daheim gekocht.

Der Coup ist gelungen. Und der Stoß des Champions erweist sich als so folgenreich, dass es sich lohnt, die Bahn seines Spielballs in allen Phasen nachzuzeichnen. Die ersten beiden Kugeln, die rot-grünen, schickt er aus ungünstiger Lage ins Loch, die vier letzten, die schwarz-gelben, aus günstiger in komplizierteste Verhältnisse.

Karambolage eins: Fischer befreit sich vom Druck seiner unhaltbar gewordenen europäischen Hoffnungen. Schon vor der Bundestagswahl 2002 hatte ihm der Kanzler versprochen, im Falle eines rot-grünen Sieges werde er freie Hand haben für einen Wechsel ins Amt des europäischen Außenministers. "Er wäre eine glänzende Besetzung", verkündet Schröder dann im Mai auch öffentlich. Fischer denkt nur noch an Brüssel - und kokettiert auf alle Fragen mit einem Dementi, das keines ist: "Vergessen Sie‘s."

Der Kanzler nimmt Abschied von der Option auf eine große Koalition

Im Sommer wird indes klar, dass der Abgang 2004 pure Illusion ist. Der europäische Verfassungsentwurf, der das Amt erst schaffen soll, wird noch durch die Mühlen einer Regierungskonferenz gedreht und muss anschließend von allen EU-Staaten ratifiziert werden, bevor er vielleicht 2006 in Kraft tritt. Fischer müsste also, wollte er rasch wechseln, Ende 2004 zunächst mit dem unbedeutenden Posten des EU-Außenkommissars vorlieb nehmen und auf spätere Aufwertung zum Außenminister hoffen. Das ist unter seiner Würde. Aus dem Italienurlaub zurückgekehrt, spricht er mit Schröder übers Bleiben und klinkt sich mit Interviews wieder in die deutsche Reformdebatte ein. Bei einem Mittagessen am 28. August werden sich die beiden einig.

Unerwartete Dynamik

Fischer will die Nachricht zunächst über ein Sprachrohr im "Spiegel", lancieren. Doch dann kriegt das Ding unerwartete Dynamik. Der Kanzler, am selben Nachmittag in einem RTL-Interview nach Fischers Zukunft gefragt, erteilt ihm das "Recht des ersten Wortes". Fischer nimmt die Gelegenheit umgehend wahr und lässt die Entscheidung von seinem Sprecher Walter Lindner "aus Regierungskreisen" an Reuters stecken. Auf einen klaren Satz des Ministers selbst aber wartet das Publikum vergebens; denn der hat seine Ambitionen auf den Top-Job in Brüssel keineswegs begraben, sondern nur aufgeschoben, auf 2008 oder 2009. Eine endgültige Absage ist also zu vermeiden - was zu der kuriosen Situation führt, dass der harte Entschluss von Kanzler und Vizekanzler aus weicher Quelle lanciert wird. Immerhin: Fischer hat seine Querlage korrigiert. Klick - die erste Kugel ist eingelocht.

Karambolage zwei: Der Kanzler nimmt Abschied von der Option auf eine große Koalition. Schröder hatte sich nach der Wahl zunehmend auf einen Partnerwechsel eingestellt, Fischer seine Partei wieder und wieder mit apokalyptischen Visionen davor gewarnt. Der Grüne wollte nach Brüssel fliehen; der SPD-Chef hätte ihn ziehen lassen, um sich die Turbulenzen einer Verratsdebatte zu ersparen, denn er hätte seinen populärsten Minister, in der SPD oft beliebter als er selbst, andernfalls an die Luft setzen müssen. Nun hat Schröder erkannt: Die Union - ohne Machtzentrum und heillos zerstritten - ist zu schwach für die riskante Operation, Angela Merkel könnte sie nicht wagen.

Der Kanzler hat darüber zu neuer Entschlossenheit gefunden. Er hat nur eine Chance, die Wahl 2006 zu gewinnen: Wenn er die Sozialsysteme und den Arbeitsmarkt unbeirrbar reformiert und dafür mit Aufschwung und sinkender Arbeitslosigkeit belohnt wird. Und: Wenn er dabei Fischer als starken Partner an der Seite hat. Aus dem Tunnel der miserablen Umfragewerte gibt es nur ein Entkommen: nach vorn, und zwar rasch. Entweder erreicht er das Licht rechtzeitig vor der Wahl, oder der Volkszorn überrollt ihn wie eine Dampflok von hinten. Vor der Wahl wird noch einmal das Kabinett umgebildet, verjüngt. Dann heißt es für Rot-Grün, für Schröder und Fischer: alles oder nichts. Die große Koalition jedenfalls ist endgültig erledigt. Klack - die zweite Kugel rollt ins Loch.

Der Groll lässt Stoiber nicht ruhen

Karambolagen drei, vier und fünf: Angela Merkel, Edmund Stoiber und Roland Koch, die sich im Wettstreit um die Kanzlerkandidatur 2006 eifersüchtig belauern, werden in frisch entfachter Rivalität auseinander getrieben. Der Groll über die um Haaresbreite verlorene Wahl 2002 lässt Stoiber bis heute nicht ruhen - hat ihn Schröder nicht mit Flut und Irak-Krieg um den verdienten Sieg betrogen? Nun wittert er die Chance, 2006 Revanche zu nehmen - in derselben Konstellation. Koch wird fortan, noch eiserner als bisher, auf Blockade gegen Rot-Grün setzen, denn nur als Retter aus schwerer ökonomischer Krise könnte er reüssieren. Merkel müsste dagegen jetzt ihren Anspruch auf die Kanzlerkandidatur anmelden, ihn mit klaren Positionen in der Reformdebatte verbinden und die Rivalen im Kampf um Mehrheiten dafür niederringen. Aber dafür fehlen ihr Mut und Fantasie.

Eigentlich müsste sich eine gut präparierte Opposition vor dem Duo Schröder/Fischer nicht fürchten. Sie könnte gelassen ihre Kampagne vorbereiten - Motto: Acht Jahre Murks sind genug. Aber nichts, gar nichts ist in der Union geklärt, weder programmatisch noch personell. Alle Sachdebatten werden von der offenen Machtfrage überlagert. D?j? vu: Je näher 2006 rückt, desto schriller werden - wie schon 2002 - die Ängste werden: Kann es Angela Merkel überhaupt, sie hat doch in ihrem Leben noch nie eine Wahl gewonnen? Wir lassen uns keine Personaldebatte aufzwingen, tönt es heute vielstimmig selbstbeschwörend aus der Union - doch genau das ist der Beginn jener Debatte. Klick, klack, klick - dritte, vierte und fünfte Kugel weggeschossen.

Merkel, Stoiber und Koch treiben in neuer Rivalität auseinander

Karambolage sechs: Guido Westerwelles "Unabhängigkeitsstrategie" ist zerstört, die FDP an die Seite der Union getrieben. Denn das rot-grüne Tandem hat die Koalitionsfrage nicht nur in eigener Sache, sondern für jeden und alle beantwortet. Die Bundespräsidentenwahl im Mai kommenden Jahres, die der FDP-Vorsitzende mit einem strategischen "Meisterstück" zum Signal für einen schwarz-gelben Regierungswechsel 2006 machen wollte, hat nun jeden bündnispolitischen Reiz verloren.

Im Gegenteil: Union und FDP müssen plötzlich fürchten, dass Rot-Grün die knappe Unterlegenheit in der Bundesversammlung zu einem überraschenden Manöver nutzt, um die schwarz-gelbe Eintracht zu torpedieren. Indem etwa eine zugkräftige Frau oder ein Reformer mit liberalkonservativer Ausstrahlung zur Wahl gestellt wird. Westerwelle übt jedenfalls keinen Druck mehr aus, unversehens steht er selbst unter Druck. Klack - sechste Kugel trudelnd angeschnitten. Fischers Spielball rollt aus.

Diese Perspektive ist nicht unbedingt erheiternd

Und klar ist: Am 28. August 2003 hat der Wahlkampf 2006 begonnen. Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb. Für das Land ist diese Perspektive nicht unbedingt erheiternd - für einige, die Neues wagen wollten, sogar frustrierend. Der Generationswechsel bei den Grünen, der von manchen ersehnte Übergang in die Nach-Joschka-Ära, ist vorerst gestoppt. Und heimlich ausbaldowerte schwarz-grüne Bündnisse haben bei dieser Frontstellung keine Chance - weder nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Frühjahr 2005 noch in Baden-Württemberg ein Jahr später. Am Spieltisch ist kein Platz mehr für schwarz-grüne Pfadfinder - Fischer hat sie mit dem Ellenbogen zur Seite geschoben.

print
Hans-Ulrich Jörges

PRODUKTE & TIPPS

Kaufkosmos