Puh! Endlich. Diese Nacht ist vorüber, zarte Morgenröte sprengt die Beklemmung von der Brust. Jetzt bloß schnell den Angstschweiß, den kalten, den klebrigen, den deutschen, von der Stirn gewischt. Und tief durchgeatmet. War alles bloß ein Albtraum. Das Krisengeheul, die Sparmassaker, der Sturz ins bodenlose, finstere Nichts. Angst würgte die Kehle, Magensäure stieg empor. Vorbei, ausgestanden. Der Weckruf des Kanzlers hat dem teutonischen Kotzreiz ein Ende bereitet. Geld für alle! Frische, knusprige, erotische Scheinchen. Jeder soll sich was leisten können. Kaufen, kaufen, kaufen. Jeder.
Auch der Kanzler. Gerhard Schröder will sich Wahlen kaufen. 13 Stück liegen davon nächstes Jahr im Schaufenster. Sechs Kommunalwahlen im Frühjahr: zwei im Westen, vier im Osten. Vier Landtags- und zwei Kommunalwahlen im Herbst: drei im Westen, drei im Osten. Dazu die Europa-Wahl im Juni und die Kür des Bundespräsidenten im Mai - aber die ist nicht zu kaufen, nicht mit Geld, mit Steuergeschenken jedenfalls.
Die anderen wohl. Vielleicht. Wenn der Euro im Kasten klingt, die Seele froh zur Urne springt. Um es wem zu danken? Na, dem Kanzler. Hofft er jedenfalls. Geradezu inbrünstig bei der Kommunalwahl an Rhein und Ruhr im Herbst - Generalmanöver für die Landtagswahl im Frühjahr 2005. Hörte die rote Herzkammer auf zu pumpen, drohte der Infarkt bei der Bundestagswahl 2006. Also jagt Dr. Schröder beizeiten Adrenalin in den Herzmuskel.
So naiv gläubig, die Medienleute
Willkommen im Wahlkampf 2004! Die Premiere wurde auf Schloss Neuhardenberg inszeniert. Ungemein durchsichtig - aber ungemein erfolgreich. So naiv gläubig, wie die reportierenden Medienleute die große Steuervolte des Kabinetts besangen - natürlich hatte jeder von ihnen schon seinen eigenen Schnitt überschlagen -, so schwärmerisch, wie sie den auftrumpfenden Kanzler der verstolperten Reformen mit dem preußischen Kanzler der radikalen Staatsreform verglichen, so herzerwärmend hätte das kein PR-Profi zu richten vermocht. Ab jetzt ist Wahlkampf.
Wenn der Euro im Kasten klingt, die Seele froh zur Urne springt
Die Wahrheit hat in solchen Zeiten keine Saison. "In Wahljahren wirst du belogen", hat der Grüne Oswald Metzger gerade vor dem Wahlbetrugs-Untersuchungsausschuss des Bundestags gestanden. Mitunter auch schon in Vorwahljahren. "Wir müssen den Mut zur Wahrheit haben. Aussprechen, was ist", hatte der Kanzler noch am 1. Juni auf dem Sonderparteitag der SPD in sein Volk gerufen. Es werde sich viel ändern müssen, wenn man den Wohlstand auch nur halten wolle. "Mehr sollten wir den Menschen nicht versprechen."

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Alles wird gut
Nun wird wieder versprochen. Mehr. Mehr Geld. Mehr Wohlstand. Alles wird gut. Alles wird wieder wie früher. Und die Wahrheit wird in die Sommerferien geschickt. Die himmelschreiende Finanznot, die den Staat in eine Verfassungskrise gestürzt hat. Der zum Torso verstümmelte Bundeshaushalt 2003, der bei faktischer Stagnation noch mit illusionären 0,75 Prozent Wachstum kalkuliert. Der Etatentwurf 2004, der nur mit Luftbuchungen und einem Wachstumstraum von zwei Prozent zusammenzuzimmern war. Das Rentendesaster, das für 19 Millionen Alte erstmals Rentenkürzungen um bis zu vier Prozent erzwingen müsste, weil der Staat die Hälfte der Krankenversicherungsbeiträge der Senioren einfach nicht länger zahlen kann. Die Steuerausfälle von zehn Milliarden Euro, die Länder und Gemeinden - pleite as pleite can be - nun zusätzlich wegdrücken sollen. Der Kanzler hat euch freigegeben. Schönen Urlaub!
Im Herbst sehen wir uns wieder. Dann kehrt die Wahrheit heim ins Reich des Selbstbetrugs. Dann kollabiert der Etat 2003, weil ihm die Steuerschätzung das Rückgrat bricht. Dann zischt die heiße Luft aus dem Haushalt 2004, weil die Steuersenkung alle Ventile öffnet. Dann muss den Rentnern reiner Wein eingeschenkt werden. Dann wird genommen statt gegeben. Dann geht die Realität der Illusion an die Kehle.
Gerhard Schröder wird die Luft dennoch nicht wegbleiben. Denn er hat die Union in der Falle: Niemand darf den Deutschen ihre Steuerreform wieder nehmen. Wenn es ans Sparen, Streichen und Schuldenmachen geht, sind CDU und CSU zur Handreichung verdammt. Der Kanzler haftet für die Wohltat, die Opposition für den Sichelschnitt zur Finanzierung. Ihr bleibt nur eines: nach der Bayern-Wahl im September zu entscheiden, ob sie als Gegenleistung die Beteiligung an der Macht verlangt - die große Kooperation zur großen Koalition macht. Oder Schröders Ernte 2004 düngt.