Die SPD hält ein Goldstück in den Händen. Sie hat begonnen, es hin- und herzuwenden, aber sie weiß nicht, wie viel es wiegt und was es wert ist. Auch die CDU hat eine Ahnung vom plötzlichen Reichtum der verarmten Konkurrenz, und die Klugen bei ihr sind darüber höchst erregt. Aber das geben sie einstweilen nicht zu, weil sie ratlos sind, wie sie der SPD deren Goldstück wegnehmen oder es in einen Klumpen Pech verwandeln könnten.
Ich habe es wiegen lassen, das Goldstück, vom Berliner Forsa-Institut, und es zeigt sich, dass die SPD bei Wahlen ein Vermögen daraus machen könnte. Denn die Vermutung bestätigt sich, dass der bislang kaum beachtete Plan der Amerikaner, in Polen und Tschechien ein Raketen-Abwehrsystem gegen womöglich atomar bestückte iranische Flugkörper zu installieren, mitten ins Herz der deutschen Ängste trifft. Und dass ein anhaltender Streit darüber, in den Wahlkämpfen der kommenden beiden Jahre vergröbert und zugespitzt bis zur emotional aufgeladenen Entscheidung über Krieg und Frieden in Europa, eine Wiederholung der legendären Kampagne Gerhard Schröders gegen den Irak-Feldzug möglich erscheinen lässt. Denn der deutsche Anti-Amerikanismus ist tief verwurzelt - und geradezu atemberaubend. 48 Prozent der Deutschen sind der Überzeugung, dass von den USA die größere Bedrohung für den Weltfrieden ausgeht als vom Iran, fand das Forsa-Institut heraus. Nur 31 Prozent halten das Mullah-Regime für gefährlicher, weitere 15 Prozent, auch das alles andere als beruhigend, setzen beide in dieser Hinsicht gleich. Das gilt für alle Altersgruppen, für den Osten wie den Westen, und selbst 36 Prozent der Unionsanhänger sehen den Weltfrieden stärker von den USA bedroht (45 Prozent vom Iran). In allen anderen Parteilagern überwiegen deutlich die Amerika-Phobiker.
Damit haben die US-Pläne keine Chance auf Verständnis bei den Deutschen. Eine Mehrheit von 54 Prozent sieht durch die Stationierung den Frieden in Europa bedroht, auch 46 Prozent der Anhänger von CDU und CSU. Und Kurt Beck, der instinktiv nach dem Thema griff, geben gar 72 Prozent der Bundesbürger Recht bei seiner Ablehnung. Die sozialdemokratische Klientel zu 80 Prozent, die der Union immerhin noch zu 62 - fast zwei Drittel. Es verlangte Übermenschliches von Beck, das nicht zupackend auszubeuten.
Die Beute ist vielversprechend. Auch sie lässt sich wiegen. Ein gutes Viertel der Deutschen, exakt 27 Prozent, die ihre Stimme bei der nächsten Bundestagswahl bislang nicht der SPD geben wollten, können sich vorstellen, Becks Partei zu wählen, sofern die bei ihrer klaren Ablehnung der amerikanischen Raketenpläne bleibt. In der Unions-Klientel wären 18 Prozent versucht, bei den Liberalen 26. Und unter den Abwanderern, die 2005 SPD gewählt hatten, das aber nun eigentlich nicht mehr tun wollten, sind es sogar 49 Prozent.
48 Prozent der Deutschen halten die USA für gefährlicher als den Iran. Die SPD könnte die Wählerschaft von Grünen und Linkspartei glatt halbieren
Geradezu überwältigend aber ist das Potenzial einer Beck'schen Friedens-SPD bei den Wählern von Grünen und Linkspartei: 53 Prozent der Grünen und 49 Prozent der Linken wären versucht, zur SPD zu wechseln, wenn die bloß hart bleibt gegen die Raketen. Das ist strategisch für die SPD ungemein verlockend: Die linke Konkurrenz, historisch Fleisch vom Fleische der Sozialdemokratie, würde mit einem Streich halbiert, falls es Beck gelänge, dieses Reservoir voll auszuschöpfen. Die frisch fusionierte Linkspartei und die um Profil ringenden Grünen, aktuell von neun bzw. zwölf Prozent der Wähler unterstützt, müssten um den Wiedereinzug in den Bundestag zittern!
Die offene Frage ist nun: Bringt die SPD die Kaltschnäuzigkeit und die Geschlossenheit auf, den Raketenstreit aus rein parteitaktischen Interessen zur Gefährdung des Friedens in Europa hochzujazzen - mit gravierenden Folgen für die Weltpolitik? Wo es doch nur um zehn US-Raketen in Polen geht, rein defensiv und sogar ohne Gefechtsköpfe? Wo doch eher der imperiale Gestus der USA kritikwürdig ist, sich allein durch Verträge mit Warschau und Prag, als Untermieter also, mitten ins europäische Haus zu fläzen? Wo der gravierende Haken doch ganz woanders liegt: dass die Raketen nämlich die Sanktionen gegen den Iran unglaubwürdig machen und ihm signalisieren, dass der Westen fest mit seiner (atomaren) Aufrüstung rechnet und dass er gleich mehr als zehn Langstreckenraketen bauen sollte, um den Schild zu überwinden? Für Angela Merkel wird das Thema noch aus einem anderen Grund gefährlich: Russland hat die Bühne betreten. Wladimir Putin hat schon im Februar durch eine Brandrede in München auf die Raketen aufmerksam gemacht, ihm rücken die USA unverschämt dicht auf den Pelz. Gelingt es der Kanzlerin nicht, die Amerikaner zur Umkehr zu bewegen, stellt sie sich nicht ebenso hart gegen Washington wie die SPD, was im Wahlkampf schier unvorstellbar ist, hängt jede politisch-militärische Lösung von Putins Zustimmung ab. Er hat es in der Hand, die deutschen Ängste zu nähren oder zu besänftigen. Damit könnte er die deutschen Wahlen entscheiden.