Zwischenruf Die Minderheitsregierung

Hinter der Großen Koalition steht in Wahrheit nicht einmal mehr die Hälfte der Deutschen - die Volksparteien sind keine mehr. Aus stern Nr. 37/2006

Die größte Partei ist gar keine Partei. Sie ist das glat te Gegenteil: die Gemeinschaft der Nichtwähler und Unentschlossenen. Sie hat keinen Namen, aber sie ist nicht stumm. Sie artikuliert sich nicht in Programmen, sondern in Stoßseufzern. "Ich kann die alle nicht mehr ab", "Die machen doch eh, was sie wollen" oder "Ich kann zwischen denen keinen Unterschied mehr erkennen", lauten die Bekenntnisse dieser Stoßseufzer-Partei. "Die" - das sind die echten Parteien. Aktuell schart die Schattenpartei der Nichtwähler und Unentschlossenen bei Umfragen 31 Prozent der Deutschen hinter sich. Das alleine ist nicht sonderlich aufregend, denn es waren auch schon mal mehr. Aufregend wird es erst, wenn die Zornigen und Ratlosen behandelt werden wie eine Partei. Dann zeigt sich: Die Volksparteien CDU/CSU und SPD waren niemals zuvor so schwach wie heute. Ja, sie verlieren ihren Rang als Volksparteien. Aktuell sind sie es jedenfalls nicht mehr.

Und das erklärt sich so: Bei den Meinungsumfragen wird die Stoßseufzer-Partei zur Seite geschoben, als gäbe es sie gar nicht - sie hat ja auch keinen Sitz im Parlament. Die Ergebnisse der echten Parteien werden dann gleich 100 gesetzt - als repräsentierten sie das ganze Volk -, und das ergibt die viel beachteten Werte der Sonntagsfrage: "Wen würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?" Aktuell antworten darauf 30 Prozent der Wahlwilligen CDU/CSU und 29 Prozent SPD. Miserabel für die Große Koalition - aber geradezu erschütternd, wenn deren Ergebnisse an allen Wahlberechtigten gemessen werden, also einschließlich der Nichtwähler und Unentschlossenen. Manfred Güllner, der Chef des Berliner Forsa-Instituts, hat das für den stern errechnet, weil sich so offenbart, welchen Rückhalt die Parteien wirklich im Volk haben.

Zur CDU/CSU bekennen sich demnach heute nur 20,7 Prozent aller Deutschen, zur SPD 20 Prozent - jeweils rund 10 Punkte weniger als zur Stoßseufzer-Partei. In der Summe kommt die Große Koalition auf überaus ernüchternde 40,7 Prozent. Und das heißt: Deutschland hat, was die aktuelle Stimmung angeht, eine Minderheitsregierung. Die großen Parteien bilden eine Große Koalition, um die großen Probleme zu lösen - dieser Lehrsatz gilt nicht mehr. Er ist abgelöst worden von einem neuen: Die großen Probleme werden nicht gelöst, deshalb macht die Große Koalition die großen Parteien klein. So klein wie noch nie seit 1949. Sie lähmen sich nicht nur gegenseitig, sie zehren sich auch gemeinsam aus. Ein historischer Vergleich macht die Dramatik noch anschaulicher: 1983 hat Helmut Kohl 43 von 100 Wahlberechtigten für die Union gewonnen. Die CDU/CSU war damals also alleine stärker als die beiden "großen" Parteien heute zusammen. Nur fusioniert, was programmatisch wohl kein unüberwindbares Problem mehr wäre, hätten sie noch die Kraft einer Volkspartei alten Schlages.

Dafür waren die kleinen Parteien noch nie so stark wie heute. In der üblichen Rechnung, unter Ausschluss der Nichtwähler und Unentschlossenen, kommt die FDP aktuell auf 14 Prozent, die Linkspartei auf 11, die Grünen auf 10 und die sonstigen Parteien auf 6. Misst man sie an allen Wahlberechtigten, erreichen sie immer noch achtbare Resultate: die FDP 9,7 Prozent; die Linke 7,6; die Grünen 6,9; die sonstigen Parteien 4,1. Macht zusammen 28,3 Prozent - mehr als jede der beiden Möchtegern-Volksparteien alleine erreicht.

1983 war die CDU/CSU unter Helmut Kohl alleine stärker als die beiden "großen" Parteien heute zusammen

Wohin sind deren einstige Wähler verschwunden? Die Forsa-Analyse entschlüsselt auch das. Zunächst: Von 100 Menschen, die bei der Bundestagswahl 2005 der CDU/CSU ihre Stimme gegeben hatten, bekannten sich Ende August nur noch 63 zu ihr. Von 100 Wählern der SPD sind nicht mehr als 59 eisern bei ihrer Partei geblieben. Die Union hat 8 von 100 an die FDP verloren, 4 an die SPD und je einen an Grüne, Linke und sonstige; die SPD 5 von 100 an die Grünen, je 4 an Union und Linkspartei, 3 an die FDP und einen an sonstige Parteien. Die kleinen Parteien haben also von den großen gewonnen, aber nicht so viel wie vielleicht vermutet. Dramatisch verloren haben die einstmals Großen an die Stoßseufzer-Partei, die Nichtwähler und Unentschlossenen: 22 von 100 Unionswählern des Jahres 2005 verabschiedeten sich dorthin, gleichzeitig 24 von 100 SPD-Wählern.

Das ist ein schrilles Alarmsignal - und doch auch kleiner Trost und großer Ansporn. Alarmsignal, weil sich daran die fundamentale Vertrauenskrise der einstigen Großparteien, der Verlust verlässlicher Bindungen und der Zerfall des historischen Parteiengerüsts ablesen lässt. Trost, weil der Großteil der abgängigen Koalitionswähler nicht endgültig das Lager gewechselt hat. Ansporn, weil sie damit theoretisch rückholbar sind. Wenn Union und SPD die großen Probleme lösten und sich frisches Vertrauen erdienten. Wenn, ja, wenn ...

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Hans-Ulrich Jörges