Zwischenruf Vorwärts - und vergessen

Die SPD beginnt sich von den Gespenstern ihrer Vergangenheit zu befreien - und gewinnt neue Zuversicht. Die Union zu überholen ist nicht mehr unrealistisch. Aus stern Nr. 36/2006

Das Trauma weicht. Langsam, ganz langsam löst sich die Erstarrung, entrücken die Schrecken der Vergangenheit, schwenkt der Blick nach vorn. Keine Partei hat so viel erlitten, so schwere Verletzungen davongetragen und sich selbst so tiefe Wunden geschlagen wie die SPD. Die Kabalen der Enkel Willy Brandts, die Selbstzerstörung Rudolf Scharpings, die Flucht Oskar Lafontaines - des Lieblings der Partei -, die schlingernden Jahre Gerhard Schröders, die permanente Nötigung durch den Basta-Kanzler, die Überwältigung durch die Agenda zwanzigzehn, die Blamage des Heilsbringers Hartz, der Verlust von Stammländern und Kommunen, das Ende des rot-grünen Projekts, der Aufstieg der Linkspartei - der zweiten Abnabelung von der Urmutter SPD seit Gründung der Grünen -, das erpresste Misstrauen zum eigenen Kanzler, der verzweifelt-skrupellose Wahlkampf, der rasende Schröder am Wahlabend und seine Gier nach dem großen Geld, das Notbündnis mit der Merkel-Union, der achte Vorsitzende seit Willy Brandt, der vierte in den drei vergangenen Jahren...

Zu messen ist das Elend noch immer. 30 Prozent waren der Gipfel des Wählervertrauens, den die SPD in den vergangenen Monaten erklimmen konnte - 29 sind es aktuell. Die Union ist um runde 10 Punkte auf 30 Prozent abgestürzt, der tiefste Wert seit der Wahl - doch der großkoalitionäre Rivale hat nichts, kein Jota, davon gewonnen. Die FDP mästet sich mit 14 Prozent an der meuternden Unionsklientel, Lafontaines gedopte PDS mit 12 Rekord-Prozenten am frustrierten Links-Milieu. Leistungslose Beute in beiden Fällen.

Und dennoch. Die CDU ist in Krisenstimmung, nicht die SPD. Die Union ist in eine Führungskrise geschliddert, die Sozialdemokraten haben sie hinter sich. Die Schwarzen streiten über ihre Sozialdemokratisierung, nicht die Roten über Christdemokratisierung. "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität" hat Angela Merkel, bedrängt vom "linken" Jürgen Rüttgers, gerade auf einem Programmkongress als gleichrangige Werte der CDU ausgerufen - ein Abschied vom zuvor einsam strahlenden Leitstern der Freiheit. "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die gleichrangigen und einander bedingenden Grundwerte der Sozialdemokratie", heißt es aber auch in den Leitsätzen für ein neues Grundsatzprogramm der SPD. Die CDU erscheint in diesem Fall als Plagiator, die SPD als Original.

Und im Kabinett beweisen die Sozialdemokraten Führung, Klarheit und Mut (wenn auch Übermut durch Ulla Schmidt) - während die Union laviert und schwächelt. Franz Müntefering war es, der die Rente mit 67 durchsetzte. Peer Steinbrück ist es, der die Unternehmensteuerreform gegen Widerstände von links und rechts vorankämpft und einfache, aber ungeliebte Wahrheiten ausspricht - etwa, dass den Deutschen die Alterssicherung wichtiger sein sollte als eine Urlaubsreise. Brigitte Zypries war es, die sich auf das verminte Gelände des Scheidungs- und Unterhaltsrechts wagte. Und Kurt Beck war es, der als Erster für die deutsche Beteiligung an einer Nahost-Truppe plädierte - und seine zögernde Partei zusammenhielt.

Kurt Beck, unterschätzt wie einst Angela Merkel, sucht Kampfgewicht - der Mainzer hat 12 bis 15 Kilo abgespeckt

Was die SPD braucht und noch nicht hat, ist indes ein programmatischer Kern, ein Zukunftsversprechen, ein faszinierendes Projekt, das es ihr erlaubt, links zurück- und in der Mitte hinzuzugewinnen. Die harte Hartz-IV-Klientel, die sich psychologisch in Trotz und Politikverachtung einbunkert, hat sie an die Linkspartei verloren. Jene, die zurückwollen in die Gesellschaft, und andere, die in ihr aufsteigen möchten, kann sie aber erreichen. Kurt Beck hat das Nachdenken über diese neue Botschaft nun mit der rechts gestohlenen und sozialdemokratisch gewendeten Formel von der Leistung, die sich wieder lohnen soll, eröffnet. Gewinn- und Kapitalbeteiligungen für Arbeitnehmer, von der CDU historisch propagiert, aber nie entschlossen umgesetzt, rückt er zuerst ins Zentrum. Eine Wende für die SPD, Aneignung von herrenlosem Programmgut. Wie auch die Finanzierung der Sozialsysteme aus Steuern, um die Arbeitnehmer von Beiträgen zu entlasten - von der CDU einst gepredigt, dann ängstlich auf Eis gelegt. Das kann nur ein Anfang sein, aber das ist einer.

Schon kehrt Selbstvertrauen in die Partei zurück. Gerhard Schröder sollte das erkennen und der Versuchung widerstehen, den Neubeginn in Eitelkeit und Rechthaberei zu ersticken, wenn er im Herbst seine Memoiren präsentiert. Er ist - so oder so - der Kohl der SPD. Kurt Beck hat sich etwas vorgenommen. Der Mainzer - so unterschätzt wie einst Angela Merkel, bevor sie die CDU aus Kohls Spendenskandal wieder zur Macht führte - sucht Kampfgewicht. 12 bis 15 seiner ehedem 109 Kilo, sagt Beck, hat er abgespeckt, nur durch Disziplin, die Anzüge umnähen lassen oder neue gekauft. Die SPD stärker zu machen als die Union, und sei es in einer zweiten Großen Koalition, warum sollte das unmöglich sein?

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Hans-Ulrich Jörges