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Für die Ukraine ist die Krim der Ort, wo alles anfing. Dass der Westen die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel durch Russland 2014 geschehen ließ, hat aus Sicht Kiews den Überfall aufs gesamte Land erst möglich gemacht. Nun, nachdem die Russen selbst aus Cherson vertrieben worden sind, rückt auch die Rückholung der Krim wieder in greifbare Nähe – ob militärisch oder am Verhandlungstisch. Frieden mit Russland könne es nur geben, erklärte Präsidialamtschef Andrij Jermak kürzlich, wenn Moskau die Grenzen von 1991 akzeptiere. "Wir kommen zurück", kündigte auch der ukrainische Geheimdienstchef Kyrylo Budanov in der Online-Zeitung "Ukrainska Pravda" an. Und setzte hinzu: "Ja, mit Waffen."
Was im Angesicht einer Atommacht vermessen klingt, ist mehr als Träumerei. Die Chance ist hoch, dass die Krim zum entscheidenden Schauplatz dieses Krieges werden wird. Nicht nur verbal erhöht Kiew nach zahlreichen militärischen Erfolgen den Druck, auch am Boden drängen ukrainische Streitkräfte immer tiefer vor in die besetzten Regionen nahe der Halbinsel. Die Krim selbst liegt zwar noch außer Reichweite ukrainischer Raketen und Artillerie. Gelingt es aber, die zu Beginn der Invasion von Russland eingenommene Stadt Mariupol zurückzuerobern, wäre die Halbinsel von der derzeit wichtigsten Nachschubroute, dem Landweg durch die besetzte Südostukraine, abgeschnitten.
Für Russland wäre das ein großes Problem – insbesondere, weil die teilbeschädigte Brücke von Kertsch als alternative Versorgungslinie ausfällt und weitere Anschläge zu erwarten sind. Auf der Krim ist neben der russischen Schwarzmeerflotte ein großer Armeeverband stationiert. Schon vor Beginn der Invasion im Februar hatte Moskau seine Truppen dort zusätzlich verstärkt, laut ukrainischem Militärgeheimdienst um zwei bis drei taktische Batallione. Werden sie von der Versorgung abgetrennt, könnte Putin zum Handeln gezwungen sein. Die größte Eroberung seiner Präsidentschaft stünde auf Messers Schneide. Ein unvergleichlicher Kontrollverlust, der womöglich nicht ohne politische Folgen bliebe.
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Mehrheit der Russen steht hinter Putin
Schon seit Längerem halten sich hartnäckig Gerüchte um einen möglichen Putschversuch im Kreml. Doch Anhaltspunkte dafür, dass Putin tatsächlich politisch isoliert und geschwächt ist, gibt es kaum. Noch im Oktober erreichte der Präsident laut einer Umfrage des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts Levada in der Bevölkerung Zustimmungswerte von 79 Prozent. Die wenigsten Russen geben Putin persönlich die Schuld für den aus russischer Sicht katastrophalen Verlauf des Krieges, obwohl sich zugleich 88 Prozent "sehr besorgt" oder "besorgt" über die aktuelle Lage in der Ukraine äußern. Nur noch 36 Prozent wollen die Militäroperation fortsetzen, die Mehrheit (57 Prozent) spricht sich für Verhandlungen aus.
Dennoch: Weder der Rückzug aus dem Großraum Kiew im Frühjahr noch aus Lyman in der Ostukraine hat dem Ansehen Putins geschadet. Selbst der Verlust von Cherson, das erst kurz vor seiner Befreiung durch ukrainische Truppen Anfang Oktober annektiert wurde, dürfte laut Levada-Chef Lew Gudkow an den Umfragewerten des Kreml-Chefs nicht viel ändern. "Zensur und Propaganda werden die Bedeutung dieses Ereignisses und die Schwere der Niederlage abmildern", sagte Gudkow dem russischsprachigen TV-Sender RTVi. Bei der Krim wäre das nicht so leicht.
Putin: Krim ist für Russland "heiliger Ort"
Während sich die meisten Russen nur leidlich für die annektierten Gebiete in der Ukraine – neben Cherson auch Luhansk, Donezk und Saporischschja – interessieren, hat die Krim nach Ansicht Putins den Status eines "heiligen Ortes" für das russische Volk, dessen Annexion eine "historische Gerechtigkeit" wiederhergestellt habe. Und ganz nebenbei ist die Halbinsel auch ein beliebtes Urlaubsziel. Als im August, zur besten Reisezeit, nach einem Bombardement eine riesige Rauchwolke über der Militärbasis in Saky aufstieg und den Himmel am Strand der Kurstadt verdunkelte, kam der Krieg überhaupt erst ins kollektive russische Bewusstsein.
Umso größer wäre der Effekt, den ein ukrainischer Vorstoß auf die Krim hätte. Militärisch birgt eine Offensive auf die Halbinsel aber viele Probleme. "Das würde ein enorm schwieriger Akt, den sich Kiew vermutlich nicht zumuten wird, solange noch andere Fronten offen sind", sagt Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) im Interview mit ntv.de. Der Ukraine mangele es schon jetzt an ausreichend Munition und Waffen, so Gressel, auch eine Luftwaffe oder Seeflotte gebe es nicht. Und die Krim sei stark befestigt. Es bliebe nur ein Angriff über die wenige Kilometer breite Landbrücke, die das ukrainische Festland mit der Krim verbindet. Riskant ist das allemal.
Der frühere Oberkommandeur der US-Armee in Europa, Ben Hodges, ist weit optimistischer. Sobald die ukrainische Armee ihre Langstreckenartillerie – auch HIMARS-Raketenwerfer – in Reichweite der russischen Militärbasen auf der Krim gebracht habe, werde die Brücke über der Straße von Kertsch für die Russen zur "Einladung zum Rückzug". Schon im Sommer 2023 könne es laut Hodges so weit sein. Die Frage ist, wie Putin in einem solchen Szenario reagiert. Unter Kiews westlichen Verbündeten wächst die Sorge, dass er den Krieg als Vergeltung weiter eskalieren könnte. "Es wird keinen russischen Präsidenten geben, der die Krim wieder rausrückt", sagte Ex-Kanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder 2021 dem "Spiegel". Zumindest damit könnte er recht behalten.