Die Infektionszahlen steigen bundesweit rasant an. Die Politik muss nun handeln – und vermutlich trifft es erneut die Schwächsten unserer Gesellschaft: die Kinder. Schulen und Kitas sollen – gerade erst geöffnet – wieder schließen, jedenfalls unter bestimmten Bedingungen. Bei Inzidenzen über 100 werden Öffnungen der Schulen und Kindergärten an bestimmte Bedingungen geknüpft, ab 200 soll ohne Wenn und Aber geschlossen werden – so sieht es jedenfalls eine Beschlussvorlage vor dem Bund-Länder-Gipfel vor. Der sorgenvolle Griff zum Smartphone und der kurze Blick auf die RKI-Zahlen dürfte bei vielen Eltern am Morgen die kommenden Wochen zur Routine werden.
Die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus befindet sich wieder im exponentiellen Wachstum. Aus vielen Fällen werden bald sehr viele und kurz darauf zu viele. Um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, vor allem der gefürchteten Mutanten, mag die Schließung der Schulen und Kindertagesstätten ein nachvollziehbarer Schritt sein. Aber zugleich ist es ein Armutszeugnis für die Politik, die noch vor einigen Monaten versprach, das Wohl von Kindern an oberste Stelle zu setzen.
Das Märchen der sicheren Schulen
Monatelang logen sich Politikerinnen und Politiker in die Tasche und behaupteten, Schulen seien sichere Orte, anstatt in den langen Sommermonaten dafür zu sorgen, dass sie es weitgehend werden. Aber auch ein Jahr nach dem ersten Lockdown bleibt vielen Lehrerinnen und Lehrern nichts anderes übrig als zu lüften, bis der Atem gefriert. Und hoffen, dass nichts passiert.
In den zwei Kitas, die mein Sohn im vergangenen Jahr in Hamburg besucht hat, steht am Eingang zwar mittlerweile ein Desinfektionsspender, aber bis heute existiert kein einziger Luftreiniger. Das Personal ist derart ausgedünnt, das schon wenige Ausfälle – etwa durch Impfungen – dafür sorgen, dass die eigentlich streng voneinander getrennten Kinder in eine Gruppe zusammengelegt werden.
Ob die eigenen Kinder sicher sind, hat mehr mit Glück als Verstand zu tun. Die Kita- und Schulleitungen geben sich größte Mühe, entwerfen innovative Hygiene-Konzepte, aber die Politik schafft es nicht, die grundlegendsten Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Beispiel Luftreiniger: Diese Geräte kosten keine 100 Euro, vielerorts legen die Eltern selbst zusammen. Schließlich sind diese auch "nach Corona", wie es oft so schön heißt, eine gute Investition. Im Morgenkreis hält sich jedenfalls kein Kind an die Niesetikette.
Draußen an der frischen Luft ist man am sichersten, das ist die wesentliche Erkenntnis im Umgang mit Corona. Dementsprechend war es ein Fehler, als die Regierung vergangenes Jahr neben den Kitas auch die Spielplätze sperrte. Nun wird der Fehler wiederholt, zumindest auf Kommunalebene – das zeigt die Stadt Wuppertal: "Spielplätze dürfen ab 17.30 Uhr nicht mehr betreten werden", heißt es in der dortigen Verordnung. "Es gilt ganztägig ein Verbot zum Verzehr von Speisen, hiervon ausgenommen sind Kinder bis zum Alter von einem Jahr."
Hab ich etwas verpasst? Ist das Quetschie für den Zweijährigen im Freien nun der Pandemietreiber? Zum Homeoffice wird lediglich "angemahnt", aber die Rutsche ist für den Vierjährigen ab sofort tabu? Die kleinsten Schultern sollen nun die Last tragen, die milliardenschweren Konzernen offenbar nicht zuzumuten ist. Verkehrte Welt.
Malle ist einmal im Jahr – um jeden Preis
In den Talkshows der Nation wird im Zusammenhang mit Schulen immer wieder eine Zahl genannt: 30 Prozent. Diesen Anteil sollen die Bildungsstätten am Infektionsgeschehen haben. Dabei zeigen Studien: Schulen sind keine Inseln der Seligen, wie einige behaupten, sie sind aber auch nicht die Virenschleudern, als die sie häufig dargestellt werden. Internationale Untersuchungen legen nahe, dass sie bei Einhaltung der Hygieneregel das Infektionsgeschehen um sie herum lediglich widerspiegeln. Sprich: Geht die allgemeine Inzidenz nach oben, spiegelt sich das auch in den Klassenzimmern wieder – und umgekehrt. Dass die Schulen nun womöglich wieder verriegelt werden, man in der Kaffeeküche des Großraumbüros aber weiter tratschen darf, ist aus epidemiologischer Sicht nicht erklärbar.
Dass Eltern von Flensburg bis zum Bodensee sich nicht ernst genommen fühlen, hat auch viel mit den Prioritäten in diesem Land zu tun. Nach mitunter drei harten Monaten ohne Betreuung, in denen Kinder kaum ihre Freunde sehen durften, kündigte die Regierung Lockerungen an, als die dritte Welle längst anrollte. Nun dürfen Inge und Wilfried geimpft und frisch frisiert mit Dutzenden Unbekannten nach Mallorca fliegen, um dort bei milden 19 Grad Boule zu spielen, während um sie herum die gefährliche brasilianische Mutante wütet. Die achtjährige Mia muss dagegen bald wieder in den Distanzunterricht, um die Pandemie einzudämmen. Ich gönne allen Mallorca-Reisenden den Urlaub, aber das versteht niemand.
Ein gebrochenes Versprechen
Deutschland schleppt sich von einem Lockdown zum nächsten, statt endlich innovative Lösungen zu finden. Ich möchte das Virus nicht verharmlosen, ganz im Gegenteil. Aber die Politik sollte sich an ihre eigenen Versprechen erinnern. Angesichts des Weltkindertages im vergangenen September, wenige Tage vor der Verkündung des zweiten Lockdowns, mahnte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht: "Kinder haben besondere Bedürfnisse und benötigen deshalb einen besonderen Schutz durch den Staat und die Gesellschaft."
Wir sollten den Jüngsten unter die Arme greifen und auch bereit sein, ungewöhnliche Wege zu gehen, statt ihnen permanent die Zukunft zu verbauen. Denn die Kinder von heute werden morgen die Kosten der Pandemie zu schultern haben.