Wuppertaler Oberbürgermeister Ökonom Schneidewind erklärt, wie sich das Karlsruher Urteil auf die Klimapolitik auswirken wird

Uwe Schneidewind, Wuppertaler Oberbürgermeister
Uwe Schneidewind, Wuppertaler Oberbürgermeister: Früher beriet er auch die GroKo
© Jens Krick/ / Picture Alliance
Weg von Subventions-Orgien, hin zur Co2-Bepreisung: Uwe Schneidewind, über zehn Jahre Chef des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, fordert nach dem Karlsruhe-Urteil im Interview eine radikal neue Klimapolitik.

Herr Schneidewind, sitzen Sie manchmal in Ihrem Oberbürgermeisterbüro in Wuppertal-Barmen und raufen sich die Haare darüber, was Ihre grünen Parteifreunde in Berlin alles so verbocken? 
Ich habe sehr kurze Haare, das macht es einfach (lacht). Nein, ich würde das nicht als Verbocken bezeichnen, sondern es gibt einfach gerade eine sehr, sehr unglückliche Dynamik in dieser Regierungskoalition. 

Sie sind Ökonom. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie vergangenen Mittwoch das radikale Urteil des Bundesverfassungsgerichts hörten, das besagt: 60 Milliarden Euro Corona-Hilfsgelder, die die Ampelregierung in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) umgebucht hatte, dürfen für den grünen Umbau nicht verwendet werden?
Mir schoss durch den Kopf: Das wird jetzt richtig schwer für die Koalition! Ich habe große Sorge, dass das Ringen um die Folgen des Urteils auf Kosten klarer Klimaschutzsignale geht. Dass jetzt alle Sicherheiten, die Wirtschaft und Privathaushalte etwa beim neuen Gebäudeenergiegesetz gewonnen hatten, wieder zerbröseln.

Im Juli verbot das Bundesverfassungsgericht der Ampel, die erste Version des Heizungsgesetzes zu verabschieden. Nun hat Karlsruhe schon wieder eine Regierungsentscheidung zurückgepfiffen, die stark ins Grünen-Ressort fällt. Können Grüne in Wahrheit doch nicht Wirtschaft?
Was beim KTF passiert ist, steht nicht in der Verantwortung der Grünen, sondern des ehemaligen SPD-Finanzministers Olaf Scholz und des heutigen Finanzministers Christian Lindner. Deren handwerkliche Fehler wurden gerügt. Aber wir sollten uns dennoch fragen: Wie kann eine ökonomisch sinnvolle Klimaschutzstrategie aussehen? Momentan werfen wir allen unwahrscheinlich viel Subventionsgeld hinterher. Wir müssen dringend überlegen, ob wir die gleichen Steuerungseffekte nicht volkswirtschaftlich sehr viel günstiger erzielen können. 

Es war also richtig von der Union, den Subventionsschattenhaushalt der Bundesregierung vor das höchste Gericht zu zerren? Oder war es doch nur niederträchtiger Wahlkampf in Krisenzeiten, wie es Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck manchmal zu interpretieren scheint?
Klar muss man klären, ob wir die Schuldenbremse ernst nehmen oder nicht. Es hat ja keinen Sinn, sich mit einer grundgesetzlichen Bundestagsmehrheit für das Instrument der Schuldenbremse zu entscheiden und dann lauter Umgehungstatbestände zu schaffen. Daher kann man der Opposition nicht vorwerfen, die Klage sei ein taktisches Manöver gewesen. Nun wäre es aber konsequent, die eigentliche Entscheidung noch einmal zu diskutieren.

Sie meinen den Sinn und Unsinn einer Schuldenbremse?
Diese Diskussion müssen wir führen. Wir sind in einer Phase der Transformation, wo wir gewaltige Investitionen realisieren müssen, die sich am Ende für alle rentieren. Das würde es rechtfertigen, die Schuldenbremse für einen bestimmten Zeitraum außer Kraft zu setzen. Diese Position vertreten auch führende Wirtschaftsinstitute.

Sie waren Professor für Innovationsmanagement und Nachhaltigkeit an der Bergischen Universität Wuppertal. Was hätten Sie beim KTF anders, besser gemacht, wenn sie in Regierungsverantwortung gestanden hätten? 
Es wäre sehr wohlfeil, von der Seitenlinie Vorschläge zu machen. Entscheidungen wie diese, also 60 Milliarden Euro aus den Corona-Hilfen in den KTF zu überführen, entstehen in einer extrem herausfordernden Verhandlungs- und Koalitionsdynamik. Da tue ich mich ein bisschen schwer, aus einer wissenschaftlichen Perspektive von außen zuzurufen: Das hätte ihr ganz klar so und so machen sollen …

… na ja, Sie haben früher immerhin als Wissenschaftler die Bundesregierung beraten.
Das ist richtig, aber da war ich näher an den Entscheidungsprozessen. Ich glaube aber, wie gesagt, die Grundsatzfrage bei knappen Kassen muss lauten: Ist die heutige Subventionsstrategie der Bundesregierung wirklich angemessen? Muss der Staat Menschen, die 40.000 Euro für ein neues Auto ausgeben können, noch 6500 Euro Prämie überweisen? Ähnliche Fragen gelten beim Ersatz einer Heizungsanlage. Diese Themen müssen jetzt auf den Tisch.

Berlin sollte also komplett umdenken?
Wir müssen vor allem mutiger denken. Ein Bekenntnis zum Klimaschutz ist eine Gemeinschaftsaufgabe, wo klar sein muss, dass diejenigen, die sich Klimaschutz eher leisten können, nicht in gleicher Weise abgefedert werden wie diejenigen, bei denen er zu sozialen Verwerfungen führt. 

Wäre es nicht grundsätzlich besser, die Ampelregierung würde ihre Klimapolitik auf das Verursacherprinzip umstellen, in dem sie C02-Kosten konsequent auf die Verbraucherpreise umlegt, anstatt Subventionen mit der Gießkanne auszuschütten? Wer dem Klima mehr schadet, wird halt stärker zur Kasse gebeten. Das klingt gerecht.
Ja, Sie haben recht. Ob man das über CO2-Zertifikate oder über noch konsequentere CO2-Preise umsetzt, ist eine Frage der richtigen Technik. Eine solche Lösung darf aber die soziale Ungerechtigkeit in diesem Land nicht fördern. Wer besonders wohlhabend ist, emittiert auch besonders viel CO2. Energiegetriebene Verbraucherpreise treffen die Ärmeren aber proportional sehr viel stärker. Wir müssen diese soziale Komponente mit bedenken. Deshalb muss als Ausgleich für die höheren Belastungen unbedingt ein Klimageld an die Geringverdienenden zurückfließen.

Warum unbedingt? Belasten nicht auch die Geringverdienenden die Umwelt?
Ja, aber wenn ich wenig Einkommen beziehe und daher in einer preiswerten Ballungsregion wohnen muss, kann ich mir nicht die hervorragend gedämmte Wohnung leisten. Zudem muss ich womöglich Pendelkosten auf mich nehmen. Darüber hinaus droht sozialer Sprengstoff, weil ohne ein Klimageld diejenigen, die Bürgergeld beziehen, bei den Energiekosten über Wohngeld und Heizungszuschüsse besser abgefedert werden als alle, die mit harter Arbeit tagtäglich ihr Einkommen verdienen. 

Sie haben vor fünf Jahren als Präsident des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie das Buch "Die große Transformation" geschrieben. Da forderten Sie von der Gesellschaft neue moralische Ideale: Genügsamkeit und Verzicht. Ist das nun nicht mehr im Fokus Ihrer Klimastrategie? 
Ich sehe das noch immer so. Es geht doch um die Frage: Wie sehen Wohlstandsmodelle in modernen Gesellschaften aus, die nicht beliebig weiterwachsen können? Leider haben wir kaum mehr Räume für diese Diskussion, ohne dass es sofort zu den bekannten Abwehrreflexen und Diffamierungen führt. Wer den Verzichtsbegriff in den Mund nimmt, wird heutzutage diskreditiert. Ich bedauere das sehr, wir waren vor zehn Jahren in diesem Punkt schon ein ganzes Stück weiter. 

Sie wollten 2020 als neuer Oberbürgermeister von Wuppertal die altehrwürdige Bergstadt im Rekordtempo ökologisch umbauen – und sind heftig ausgebremst worden. Wie ernüchtert sind Sie von der Realität?
Was wir jetzt in Berlin beobachten, das spüren wir tagtäglich auch hier in Wuppertal. Dennoch würde ich nicht von Ernüchterung sprechen. Ernüchterung gibt es sicher bei vielen, die mich gewählt haben und gehofft haben: Jetzt kommt ein Transformationspapst, und alles wird ganz schnell gehen. Solche Umsetzungsprozesse erweisen sich als sehr schwierig. Aber nur durch Experimentieren lernen wir, woran wir schrauben müssen, um mehr Geschwindigkeit hineinzubekommen. Und da erleben wir zurzeit bittere Lehren, sowohl auf Bundes- wie auf lokaler Ebene.

Nun hat der Finanzminister auch noch eine weitgehende Haushaltssperre verhängt. Welche Folgen kann das alles für eine Stadt wie Wuppertal haben?
Es sorgt für eine weitere, große Verunsicherung in allen wirtschaftlichen und sozialen Belangen. Am stärksten wird sich die Entwicklung in den Kommunen auf die Wärmewende auswirken. Es wäre schlimm, wenn es nun überhaupt keine finanziellen Anreize mehr gäbe und der Eindruck entstünde, das mit dem Klimaschutz sei doch nicht so wichtig. Wenn die Neigung weiter wüchse, doch erst einmal eine neue Gasheizung einzubauen und einfach abzuwarten. Es geht aber nicht nur um die Investitionsentscheidungen von Hauseigentümern. Kommunen müssten jetzt ihre Wärmenetze ertüchtigen, die ganze Energieinfrastruktur. Das erfordert Milliardeninvestitionen, und dafür brauchen sie politische Sicherheit. Fehlt sie, ist das Gift für solch große Investitionsprojekte.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck warnt, dass mit dem Urteil der grüne Umbau der Wirtschaft massiv gefährdet sei. Wuppertal lebt sehr stark von Industrie. Teilen Sie seine Analyse?
Ja. Wir haben in Nordrhein-Westfalen eine sehr starke energie- und CO2-intensive Industrie mit langen Wertschöpfungsketten. Das Riesenthema lautet: Schaffen diese Industrien die Transformation in eine klimagerechte Zukunft? Gerät der Prozess ins Stocken, sind die großen Industrie-Cluster hier in der Rhein-Ruhr-Region massiv bedroht, zumal in den USA und China der Umbau mit größter Intensität und staatlicher Unterstützung vorangetrieben wird. Wohin also fließen Investitionen in Zukunft? Wir brauchen ein klares Signal, dass die grüne Transformation trotz dieses Bundesverfassungsgerichtsurteils staatlich flankiert weitergeht.

Habeck sagt auch: Strom und Gas könnten nun wieder drastisch teurer werden. Welche Folgen fürchten Sie, wenn das eintritt?
Wuppertal hängt klassisch an einer sehr energieintensiven Industrieproduktion. Für sie wird die internationale Konkurrenz immer stärker. Da schauen wir mit Sorgen hin. Die Frage ist: Wie überstehen wir die Übergangsphase des energetischen Umbaus, denn erst mit regenerativen Energien werden die Energiepreise bei uns wieder sinken und die Industrien wettbewerbsfähig sein. Das rechtfertigt eine Strompreissubvention, wie sie gerade politisch entschieden wurde.

Und was bedeutet ein Preisanstieg für die Wuppertaler Privathaushalte? 
Für sie wird es nicht so schlimm werden wie im letzten Winter, als wir den Ukraineschock hatten. Höhere Energiepreise setzen zudem richtige Signale, nämlich dass wir ums Energiesparen nicht herumkommen. Dass es klug ist, lieber ein kleineres, verbrauchsarmes Elektroauto zu kaufen. Die bittere Nachricht ist, dass man solche Autos künftig nur bei chinesischen Anbietern finden wird, die sehr gute Autos für 10.000 bis 15.000 Euro anbieten werden, während die deutsche Automobilindustrie nicht in der Lage sein wird, diesen Markt zu bedienen. 

Sie haben 2018 in Ihrem Buch große, mutige Sprünge beim Klimaschutz gefordert. Passiert ist seitdem wenig. Die selbst gesetzten deutschen Klimaziele sind nicht mehr zu schaffen. Werden wir uns angesichts des klammen Haushalts künftig mit kleinen Schritten begnügen müssen? 
Die Herausforderungen sind ja nicht weg, und weltweit findet ein massiver Veränderungsprozess statt. Zum Beispiel in China, dem Land, das mit am meisten unter den Folgen des Klimawandels leidet. China wird voraussichtlich schon 2024 den Peak beim Co2-Ausstoß erreichen. Die Frage ist: Wann und wie gelingt es Deutschland, sich wieder in die Veränderungsdynamik einzuklinken? Darum geht es in diesen Tagen. Dass wir am Ende vermutlich das 1,5-Grad-Ziel reißen, ist das eine. Aber jedes Zehntel Grad, das wir vermeiden, mildert die negativen Folgen für die Menschheit in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten. Die große Frage ist, welche Rolle Deutschland dabei spielen kann.

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