Matthias Thöns weiß nicht, ob er seinen Patienten weiter helfen darf. Thöns leitet in Witten eine Praxis für Palliativmedizin. Er betreut jährlich hunderte todkranke Patienten in den letzten Wochen ihres Lebens. Rund einmal im Jahr kommt es vor, dass einer von ihnen sagt: "Wenn die Medikamente nicht helfen, springe ich aus dem Fenster." Thöns versucht alles, damit seine Patienten ihre Ankündigung nicht in die Tat umsetzen. "Wir können viele Schmerzen beseitigen", sagt er. Aber er gibt auch zu: "Es ist nur ehrlich zu sagen, dass sich nicht alles Leid lindern lässt."
Neues Gesetz: Ärzte könnten sich strafbar machen
Damit seine Patienten selbständig ihre Schmerzen mindern können, überlässt Thöns ihnen eine Box mit Medikamenten. Auf ausdrücklichen Wunsch hin erklärt er ihnen auch, in welcher Reihenfolge sie die Medikamente nehmen müssten, wenn sie ihrem Leben ein Ende setzen wollen. Kaum jemand macht das. Allein die Option zu haben, reicht den meisten aus.
Seit Freitag vergangener Woche könnte Thöns Arbeit gegen das Gesetz verstoßen. Der Bundestag beschloss, die gewerbsmäßige Hilfe zum Suizid zu verbieten. Damit sollte den umstrittenen Sterbehilfevereinen der Garaus gemacht werden. Doch Thöns befürchtet, dass bald Staatsanwälte gegen Ärzte wie ihn ermitteln könnten: "Das Strafrecht hängt jetzt wie ein Damoklesschwert über mir und meiner Arbeit."
Denn das Verbot wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. Was genau bedeutet "gewerbsmäßige" Sterbehilfe? Handelt bereits ein Arzt gewerbsmäßig, der Patienten mit Todeswunsch berät und dafür natürlich auch Geld bekommt? Darf Matthias Thöns seinen Sterbenskranken noch die Box mit Medikamenten aushändigen, selbst wenn diese in einer bestimmten Reihenfolge genommen, tödlich sind? Wie vielen Patienten darf ein Arzt beim Sterben helfen, bevor die Justiz ihm vorwirft, mit dem Tod Geschäfte zu machen?
Gesetzeskritiker wollen vor Bundesverfassungsgericht
140 Strafrechtler plädierten im Vorfeld ausdrücklich gegen das Gesetz. Die ehemalige SPD-Justizministerin Brigitte Zypries warnte ihre Kollegen während der Debatte im Bundestag: "Wir schaffen mehr Probleme, als wir lösen." Jetzt, sagt sie, sei die Konsequenz, dass Staatsanwälte gegen Ärzte ermitteln müssten. Auch andere Berufsgruppen riskierten ihrer Meinung nach ins Visier der Justiz zu geraten: Hoteliers etwa, in deren Räumen sich ein Mensch selbst tötet. "Das ist hochproblematisch", sagt Zypries.
Strafrechtler warnen, dass womöglich sogar die Betreiber von Hospizen die Gerichte fürchten müssen. Wenn sie etwa Zimmer zur Verfügung stellen, in die sich Todkranke zurückziehen können, wenn sie den Wunsch haben, ohne Zwangsernährung zu sterben, also sich selbst zu Tode hungern. Allein das könnte Angebot eines solchen Zimmers könnte als gewerbsmäßige Beihilfe zum Suizid gedeutet werden. Der Sterbehilfeverein Dignitas prüft gemeinsam mit der Giordano-Bruno-Stiftung vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das neue Gesetz zu klagen. Eric Hilgendorf, Strafrechtsprofessor an der Universität Würzburg sagt, auch Ärzte wie Thöns, die sich in ihrer Arbeit eingeschränkt fühlen, könnten den Weg nach Karlsruhe gehen: "Die Chance ist beträchtlich, dass das Gesetz vom Verfassungsgericht gekippt wird."
Bevormundet der Staat seine Bürger?
Angreifbar ist es an mehreren Stellen. Zum einen könnte es gegen das Selbstbestimmungsrecht verstoßen, weil sich der Staat unverhältnismäßig in eine der intimsten Entscheidungen seiner Bürger einmischt. Auch definiert das Gesetz den Begriff "geschäftsmäßig" nicht präzise genug. Und letztlich wirft es eine rechtsphilosophische Frage auf: Wie kann eine im Grunde erlaubte Handlung – die Hilfe zum Suizid – plötzlich rechtswidrig sein, nur weil sie gewerbsmäßig erfolgt? "Die Politik ist übers Ziel hinausgeschossen", sagt Strafrechtler Hilgendorf. Auch ein mit ihm befreundeter Rechtsprofessor arbeitet bereits eine Klage aus.
Der Palliativmediziner Matthias Thöns möchte nicht selbst vors Bundesverfassungsgericht ziehen. Doch gleich am Tag nach der Bundestagsentscheidung hat er Juristen angeschrieben, um mit ihrer Hilfe ein Gutachten auszuarbeiten. Es soll künftig Staatsanwälten helfen, das Gesetz so zu interpretieren, dass Ärzten keine Strafe droht. Doch eigentlich, sagt Thöns "ist es eine Unverschämtheit, dass wir Ärzte uns selbst darum kümmern müssen, Rechtssicherheit zu bekommen." Aber es hilft ja nichts. Er muss vorbereitet sein, sollte die Polizei demnächst klingeln.