Den ersten Ansturm der russischen Invasoren konnte die Ukraine mit einer klugen Taktik und den richtigen Waffen abwehren. Und natürlich mit dem Kampfgeist der Truppen. Tausende von tragbaren Panzer- und Luftabwehrraketen verhinderten in den ersten Wochen, dass die russischen Streitkräfte ihre Übermacht zu Luft und bei gepanzerten Fahrzeugen entfalten konnten. Im Gegenteil, sie erlitten vor allem entlang der überdehnten Nachschubwege schwere Verluste und mussten den Versuch Kiew und Charkow zu erobern, aufgeben.
Heute steht außer Frage, dass die neuen vom Westen gelieferten Raketenwerfer und Haubitzen einen Einfluss auf das Geschehen haben. Dabei sticht das HIMARS-System aus den USA heraus, denn es kombiniert – mit der richtigen Munition – Präzision, hohe Vernichtungskraft gegen Punkt- und Flächenziele mit einer hohen Reichweite. Entscheidender Unterschied gegenüber den modernen Haubitzen ist die Reichweite, die es ermöglicht, Ziele weit hinter der Front zu treffen. Die HIMARS werden vorrangig eingesetzt, um Munitionslager zu treffen, damit der russischen Armee der Nachschub ausgeht, mit dem sie ihre Offensive nähren. Erklärtes Ziel der ukrainischen Regierung ist es, Raketen mit noch größerer Reichweite – 300 statt bislang etwa 80 Kilometer – zu bekommen.
Versäumnisse zu Beginn der Donbassoffensive
Doch wird es ausreichen? Alle diese Lieferungen stehen unter dem Stigma: Zu spät und zu wenig. Schon vor Monaten hatte der Kreml für jeden erkennbar seine Taktik umgestellt und die Artillerie in den Vordergrund gerückt. Hätte man damals 40 HIMARS – anstelle von vier später – geliefert, wäre die Donbassoffensive vermutlich in den Ansätzen stecken geblieben. Heute verliert Putin jeden Tag ein Munitionslager, aber wird ihn das zum Aufgeben bringen? Man darf nicht vergessen, dass die russischen Truppen seit Kriegsbeginn jeden Tag ganz ähnliche Angriffe auf ukrainische Einrichtungen im ganzen Land unternehmen. Fast 3000 Marschflugkörper wurden eingesetzt. Im Westen wird meist über die zivilen Opfer der Einschläge berichtet. Darüber darf man aber nicht vergessen, dass das Gros der Treffer militärisch nutzbare Infrastruktur zerstört.
Die Armee stirbt
Das Abwarten und Zögern des Westens haben eine fatale Folge, die unsere Politiker tunlichst nicht aussprechen. Jeden Tag werden die Karten und die Geländegewinne ausgiebig diskutiert. Über die Verluste der ukrainischen Truppen wird geschwiegen. Doch während hier abgewartet wird, werden die ukrainischen Streitkräfte kontinuierlich abgenutzt – das heißt, die Soldaten sterben. Die Verluste an gut ausgebildeten Profisoldaten und an den engagierten Freiwilligen der ersten Tage, wird Kiew nicht mit eingezogenen Soldaten und einer Blitz-Ausbildung ausgleichen können. Und auch wenn sich die westlichen Anführer irgendwann zu mehr Waffenlieferungen durchringen können, werden die Toten nicht wieder lebendig, um diese Waffen zu bedienen.
Was geschieht an der Front?
Alle Hoffnungen, dass der russische Vormarsch liegen bleibt, weil Putins Truppen nicht mehr können, haben sich nicht erfüllt. Nach dem Fall von Lyssytschansk gab es eine Phase der Umgruppierung, aber parallel wurde der Druck auf die ukrainischen Verteidiger aufrechterhalten. Im Wesen diese Kriegsführung liegt es, dass es keine entscheidenden Gefechte gibt. So kann man die Gewinne der russischen Truppen stets als strategisch unwichtig, unbedeutend etc. abkanzeln, nur nützt das nichts, sie nagen nonstop an der ukrainischen Verteidigungslinie.
Nach dem Fall von Lyssytschansk wächst der Druck auf die Front zwischen Slowiansk und Bachmut. Weiter im Norden bei Charkow erzielen Moskaus Streitkräfte ebenfalls Gewinne. Hier hatten die Ukrainer schon die Grenze erreicht – ob das bekannte Bild mit dem Grenzpfahl nun gestellt war oder auch nicht – von dort wollten sie in die russischen Stellungen einbrechen, um so die Angriffe auf Sjewjerodonezk und Lyssytschansk in der Tiefe abzuschneiden. Stattdessen sind die Russen so weit gekommen, dass Charkow wieder in Reichweite ihrer Geschütze liegt.
Seit Wochen beschwört Kiew eine eigene Offensive im Süden. Die Befreiung von Cherson und ein Vormarsch Richtung Krim war angekündigt und würde – wenn er gelingt – die gesamte russische Position ins Wanken bringen. Nur passiert ist wenig. Die ukrainischen Truppen haben sich an Cherson herangearbeitet. Seitdem steigern sich nur noch die Verlautbarungen aus Kiew – in einem Maß, das jeden Realismus vermissen lässt. Dass der Dnjepr überquert und die Stadt tatsächlich befreit wird, ist nicht zu erkennen. Eher ist zu befürchten, dass die ukrainischen Truppen in einer Todeszone gefangen sind, aus der sie sich aus politischen Gründen nicht zurückziehen dürfen und wo sie zu schwach sind, um einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen.
Statt dessen hat Russlands Verteidigungsminister intensive Kampfhandlungen an allen Fronten angekündigt.
Putin will im Ukraine-Krieg siegen
Die gewöhnlich gut unterrichtete Londoner "Times" berichtet, die US-Geheimdienste sehen keine Anzeichen für einen Strategiewechsel Putins. Putin wird den Krieg fortsetzen, bis der Westen die Kosten dafür nicht länger tragen will. Sein Kalkül: Kiew benötigt nicht nur militärische Ausrüstung. Die systematische Zerstörung des Landes wird dazu führen, dass immer größere Teile der zivilen Gesellschaft ebenfalls aus dem Ausland alimentiert werden müssen. Nur ein Beispiel dafür: Aus eigener Kraft wird Kiew in diesem Winter die Energieversorgung nicht gewährleisten können, irgendjemand wird also die Gasrechnung für ein Volk von 40 Millionen tragen müssen. Einzige Hoffnung für ein Umdenken Putins seien eine Reihe von spektakulären Aktionen gegen symbolische Ziele – so wie die Versenkung der "Moskwa". Dazu würde Putins Lieblingsprojekt die Krim-Brücke gehören. Aber auch das wäre eine Verzweiflungstat. Denn niemand kann vorhersagen, wie das Umdenken ausfallen würde. Würde Putin innehalten oder würde er die Kriegsführung massiv eskalieren?
Auch das Undenkbare bedenken
"Ich bin Realist, ich weiß, dass die Russen morgen nicht umkehren und zurück über die russische Grenze fahren werden", sagte ein hochrangiger Pentagon-Beamter der "Times". "Vom militärischen Standpunkt aus betrachtet sind die Kosten für Russland weitaus höher, als es ohne eine solche Unterstützung durch den Westen der Fall wäre." Seiner Meinung nach muss der Westen davon loskommen von Woche zu Woche zu denken. Er muss die möglichen Entwicklungen des Krieges zu analysieren und dafür Strategien zu entwickeln. "Bis jetzt lagen die 'Spekulanten' im Allgemeinen falsch. Kein russischer Blitzkrieg. Kein russischer Zusammenbruch. Keine auffälligen Ergebnisse der beispiellosen Sanktionen. Am besten ist es, sich einzugestehen, dass es eine Reihe von Möglichkeiten gibt, und zu überlegen, wie wir mit jeder Einzelnen umgehen würden, anstatt zu versuchen, vorherzusagen, was als Nächstes passiert.“ Unausgesprochen bedeutet das, sich auch zu überlegen, welche Optionen bleiben, wenn Putin auf dem Boden weiter siegen wird und die Hoffnung, dass die russischen Truppen entscheidend zurückgeworfen werden, nicht eintritt.