FDP und Freie Wähler Wohin die Wähler der Union wandern

  • von Tiemo Rink
Günther Beckstein machte ein langes Gesicht, Roland Koch auch, und wenn Angela Merkel am Mittwoch in die Umfragen schaut, dürfte sie nicht besser aussehen.

Die Stimmung im Thomas-Dehler-Haus, der FDP-Zentrale in Berlin, dürfte prächtig sein in diesen Tagen. Seit mehreren Wochen sonnen sich hier die Liberalen im Umfragehoch - nun steigt auch noch die Zahl der Parteieintritte. "Unser Wachstum beschleunigt sich", sagt Bundesgeschäftsführer Hans-Jürgen Beerfeltz im Gespräch mit stern.de. Rund 2.600 Neumitglieder habe man bereits in diesem Jahr gewonnen, so Beerfeltz weiter. Zum Vergleich: Im gesamten letzten Jahr sollen es gerade einmal 5.000 gewesen sein. Sektfrühstück also bei der FDP - Katerstimmung hingegen bei der Union. Denn das bürgerliche Lager ist in Bewegung gekommen. Und die Zeche zahlen Merkel und Co.

Was müssen das für prächtige Zeiten gewesen sein, damals, Mitte der siebziger Jahre. Zumindest für die etablierten Parteien schien in jenen Tagen alles klar: Linke wählten SPD, Konservative die Union und für alle anderen gab’s die FDP. Im Jahr 2009 ist das stabile Dreiparteiensystem längst passé. Seit Jahren sucht die SPD nach einer klaren Linie im Umgang mit der Linkspartei und dümpelt im Umfragetief. Ein ähnliches Schicksal hat mittlerweile auch die Konservativen erreicht. Was die Linkspartei für die SPD ist, sind FDP und Freie Wähler für die Union. Im Fünfparteiensystem werden Koalitionen immer schwieriger. Auch, weil Wähler immer unberechenbarer handeln.

Verprellte Stammwähler

Rückblende: Bayerische Landtagswahl. München, 28. September 2008. Mit versteinerter Miene steht Bayerns Ministerpräsident Günter Beckstein kurz nach 18 Uhr in der Münchener CSU-Zentrale. Gerade ist die erste Hochrechnung über die TV-Schirme geflimmert - und hat Becksteins politische Karriere beendet. Die CSU verliert gut 17 Punkte und erreicht nur noch 43,4 Prozent. Ein Debakel der Konservativen, die seit mehr als vierzig Jahren den Freistaat ohne Unterbrechungen mit einer absoluten Mehrheit regiert hatten. Der bisherige Alleinvertretungsanspruch der CSU - in der Nacht vom 28. September verschwindet er spurlos. Stattdessen sitzen im neuen Landtag nun fünf Parteien, darunter mit FDP und Freien Wählern gleich zwei direkte Konkurrenten der CSU.

Vor allem die Freien Wähler, die auf Anhieb gut zehn Prozent der Stimmen erhalten, tun der CSU richtig weh. Denn schon durch ihr Vorhandensein wird offensichtlich, was in der Union lange Zeit niemand wahrhaben wollte: In ihrem ureigensten Milieu, dem ländlich-wertkonservativen Umfeld, verliert die Union den Zugang zu den Menschen. Und ausgerechnet dort sammeln die unabhängigen Wählergemeinschaften mit ihrer bürgernahen Ausrichtung all diejenigen ein, die sich von der CSU nicht mehr vertreten fühlen. Zunächst nur in Bayern. Bald auch in anderen Bundesländern?

"Gehen Sie an manchen Interviews vorbei"

Was passiert wenn das bürgerliche Lager zersplittert, durfte im Januar 2009 auch Roland Koch bei den hessischen Landtagswahlen erfahren. Dort lag die SPD nach dem Desaster rund um Andrea Ypsilanti am Boden, der neue sozialdemokratische Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel war eigentlich chancenlos. Und dennoch war Roland Koch am Ende alles andere als ein strahlender Wahlsieger. Wegen der niedrigen Wahlbeteiligung verlor die Union sogar zusätzlich Stimmen - vor allem an die FDP, die gut 16 Prozent abräumte. Dabei setzte die FDP insbesondere auf klassische wirtschaftsliberale Themen, forderte mehr De-Regulierung und Eigenverantwortung. Eine Strategie, die offensichtlich aufging.

Wie angeschlagen die hessische CDU mittlerweile ist, wurde auch Mitte März 2009 offensichtlich. Nach den deutlichen Stimmverlusten war die Parteibasis streitlustig geworden und ließ einen Wunschkandidaten der Parteispitze bei der Listenaufstellung zur Europawahl einfach durchfallen. Ein Hauch von Revolution - und das ausgerechnet in der hessischen CDU, die sich wegen ihrer Disziplin sonst gerne als "Kampfverband" bezeichnete. "Gehen Sie an manchen Interviews vorbei", forderte Roland Koch die Delegierten in Marburg auf. Es klang beinah flehend.

SMS-Freundin Merkel

Mittlerweile färben die schwachen Ergebnisse auf Landesebene auch auf die Kanzlerin selbst ab. So gerät Merkel selbst immer mehr ins Schussfeld. "Es gibt ein tiefer liegendes Unmutsgefühl, weil Merkel vielen Unionsanhängern immer fremd geblieben ist", sagt Politologe und CDU-Mitglied Gerd Langguth im Gespräch mit stern.de. "Wenn die alten Stammwähler erstmal verloren sind, wird man sie nicht einfach wieder zurückholen können", so der Wissenschafter weiter. Dabei haben frustrierte Unions-Anhänger neben der Stimmabgabe für FDP oder Freie Wähler noch eine dritte Möglichkeit - die Wahl zu boykottieren.

So geschehen vor wenigen Tagen bei der Oberbürgermeisterwahl in Kiel. Die relativ unbedeutende Wahl wurde im Vorfeld als Richtungsentscheidung für die Bundestagswahl im September hochgejazzt - und die Union zog völlig überraschend schon wieder den Kürzeren. Diesmal traf es Angelika Volquartz, die gegen den sozialdemokratischen Herausforderer Torsten Albig verlor. Der Grund für ihre Niederlage: Ein Großteil der konservativen Wähler blieb einfach zu Hause, die Wahlbeteiligung sackte auf 36 Prozent. Erwartungsgemäß nutzten die norddeutschen Sozialdemokraten den Wahlsieg für einige Sticheleien in Richtung der Union: "Kiel ist sozialdemokratisch wie kaum eine andere Stadt in Deutschland", jubelte Ralf Stegner, schleswig-holsteinischer SPD-Chef, im Gespräch mit stern.de.

Besonders pikant am Kieler Machtwechsel: Albig war bisher Pressesprecher von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück. So wurde das kleine Kiel im Wahlkampf zum Laufsteg für die Berliner Politik-Prominenz. Da wollte auch Angelika Volquartz nicht hinten anstehen. "Täglich" bekäme sie SMS von Kanzlerin Merkel, so Volquartz. Ob sie deshalb verloren hat, ist unklar. Genützt hat die Kanzlerin ihr jedenfalls nicht.