"The Blue Heart of Europe" Nach jahrelangen Protesten: Vjosa in Albanien wird zum ersten Wildfluss-Nationalpark Europas

Blick auf eine Stein-Brücke, die über die Vjosa führt
Die Vjosa, seit vergangener Woche der erste Wildfluss-Nationalpark Europas, fließt in Albanien durch die unberührte Landschaft. Die wilde Natur zieht jährlich Millionen Touristen an.
© Nick St.Oegger
Über viele Jahre war die Vjosa, einer der letzten Wildflüsse Europas und die Lebensgrundlage tausender Menschen und Tierarten, von Bauprojekten bedroht. Nun hat die albanische Regierung den Fluss zum Nationalpark erklärt und ihn damit unter besonderen Schutz gestellt.

Über 270 Kilometer schlängelt sich die Vjosa ungezähmt und frei durch die nahezu unberührte Landschaft Albaniens und Griechenlands. Das Wasser fließt durch steile Schluchten, entlang dramatischer Berglandschaften über breite Schotterflächen bis zur Adriaküste. Als einer der letzter großer Wildflüsse Europas galt die Vjosa schon lange als besonders schützenswert. Vergangene Woche ist das gesamte Flusssystem auf der albanischen Seite zum ersten Wildfluss-Nationalpark Europas erklärt worden. Damit haben die jahrelangen Proteste von Umweltschützern, Wissenschaftlern und Einheimischen, die mehr als zehn Jahre gegen die Wasserkraftindustrie ankämpfen, ein Ende. Von der Entscheidung könnte auch der Tourismus profitieren.

Vjosa ist Teil des "Blue Heart of Europe"

Die Vjosa entspringt dem Pindos-Gebirge in Griechenland, wo der Fluss Aoös heißt. Das gesamte Einzugsgebiet des Stromes umfasst nach Angaben der Weltnaturschutzunion IUCN 6.704 Quadratkilometer, wovon rund zwei Drittel auf albanischem Staatsgebiet liegen. Dort windet die Vjosa sich zunächst durch tiefe Schluchten und dann zwischen Kiesinseln und Sandbänken Richtung Nordwesten, wobei sie sich auf eine Breite von bis zu zwei Kilometern ausdehnt. Das kristallklare Wasser fließt durch das gleichnamige Tal, wo es sich in zahlreiche Seitenarme verzweigt. Solche Flüsse, "die sich auf ihrem Weg von den Bergen ins Meer ungestört einen Pfad durch Schluchten, Täler und Ebenen wühlen können", existieren laut "Geo" europaweit nur noch auf dem Balkan. Deshalb sind die Wasserläufe in der südöstlichen Region auch als "Blue Heart of Europe" bekannt.

Luftbild der Vjosa
Ein ungezähmter Fluss: Die Vjosa sucht sich immer wieder neue Wege durch das Flussbett. Im Mittellauf haben sich deshalb zahlreiche Verzweigungen gebildet.
© Nick St.Oegger

Der ungezähmte Fluss bahnt sich stetig neue Wege durch die Landschaft. In seinen Seitenarmen, auf Schotterbänken oder unter Auwäldern schafft er dabei zahlreiche Biotope. Entstanden ist dabei im Laufe der Zeit ein einzigartiges Ökosystem, das sich aus unterschiedlichsten Lebensräumen zusammensetzt. In diesen findet sich "eine beträchtliche biologische Vielfalt von nationaler und globaler Bedeutung", schreibt die Naturschutzorganisation EuroNatur. Der Fluss und seine Ufer sind ein einzigartiges Habitat für viele bedrohte Tier- und Pflanzenarten, für Fische und Mollusken, für Vögel und Insekten. "Seine Arme transportieren extrem hohe Mengen an Sedimenten, Wasser und Sand, und unterstützen damit eine extrem große Artenvielfalt und viele Lebensräume", erklärt Andrej Sovinc von der internationalen Umweltschutzorganisation "Weltkommission für Schutzgebiete" im Gespräch mit der "Deutschen Welle".

Lebensgrundlage Tausender Menschen und Tiere

Über 1.100 Tierarten, darunter 13 weltweit bedrohte Tier- sowie zwei Pflanzenarten, leben in und an der Vjosa, heißt es in einer Mitteilung der albanischen Regierung und der Outdoor-Bekleidungsfirma Patagonia, die sich ebenfalls für die Ausrufung des Nationalparks eingesetzt hat. 69 der heimischen Fischarten sind endemisch und kommen ausschließlich in der Vjosa vor. Das Flussdelta, an dem der Strom in die Adria mündet, dient nach Angaben von "National Geographic" rund 50.000 Wasservögeln als Winterquartier. Neben der vielfältigen Natur hat der Fluss auch kulturelle Bedeutung. Er bildet die Lebensgrundlage von rund 60.000 Menschen: Das Wassereinzugsgebiet bietet den Dörfern der Region fruchtbaren Boden für die Landwirtschaft. Die Fischvielfalt sind für das Wohlergehen der lokalen Fischer von entscheidender Bedeutung.

Über mehrere Jahrzehnte hinweg drohten Pläne der albanischen Regierung, Stromkonzerne und ausländischer Investoren – die "Begierde nach Strom und Privatprofit", wie die es die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) nennt – diese natürlichen Lebensräume zu zerstören. Wasserkraftwerke sind die größte Gefahr für Tiere, Pflanzen und Menschen in der Region, mahnt die Initiative "Save the Blue Heart of Europe" bereits seit Jahren. Die Kampagne wird von EuroNatur in Zusammenarbeit mit der Naturschutzorganisation Riverwatch koordiniert und gemeinsam mit Partnerorganisationen in den Balkanländern umsetzt. Sie alle kämpfen für den "Schutz von Flüssen mit besonders hohem Naturwert auf der Balkan-Halbinsel, die von mehr als 3.400 Wasserkraft-Projekten bedroht werden". 40 davon sollten im Einzugsgebiet des albanischen Wildflusses errichtet werden: Neun an der Vjosa selbst und 31 an ihren Nebenflüssen.

Wie die Vjosa zum Nationalpark wurde: Zehn Jahre Proteste, Studien und Kampagnen 

Investoren sehen die Gewässer auf dem Balkan als "gigantische Batterie". Naturschutzorganisationen hingegen warnen vor den katastrophalen Auswirkungen, die Wasserkraftanlagen und Staudämme nach sich ziehen würden. Weite Teile des Tals würden überfluten, während andere Abschnitte austrocknen würden. Beispielsweise die Region Kalivaç, für die ein riesiger Staudamm vorgesehen war. Ein "Projekt, das ihr Land ertränken würde und das sie um keinen Preis wollen", schrieb die "Geo" im Mai 2021. "Die Vjosa ist lebenswichtig für uns, für unser Land, für unsere Nahrung", sagte ein Einheimischer damals gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. "Dämme würden die gesamte Biodiversität und Fischerei für Tausende von Menschen zerstören." Noch im selben Monat stoppte ein Verwaltungsgericht in Tirana den Bau des Damms. 

Bagger in der Vjosa
Dort, wo einst der große Kalivaç-Staudamm entstehen sollte, sind die vorbereitenden Bauarbeiten schon lange eingestellt worden. Der Strom der Vjosa hat einen der Bagger mit sich gerissen.
© Nick St.Oegger

Bis aus der Vjosa schlussendlich ein Nationalpark wurde, hat es noch mehr beharrlichen Protest sowohl im Inland als auch im Ausland gebraucht. Bereits im Februar 2021 legten 20 albanische Umweltorganisationen dem damaligen Tourismus- und Umweltminister ein detailliertes Konzept für die Schaffung des Vjosa-Nationalparks vor. Einen Monat später untermauerte eine Studie der Weltnaturschutzunion IUCN die Forderung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Schaffung eines Nationalparks nach den IUCN-Schutzgebietsstandards "ist für die Zukunft des Tals von entscheidender Bedeutung, da sie den langfristigen Schutz leiten und eine nachhaltige Landnutzung sicherstellen würden", lautete das Ergebnis des Berichts. Wenig später veröffentliche die Outdoor-Bekleidungsfirma Patagonia den Film "Vjosa Forever", der den "andauernden Kampf um die Zukunft dieses einzigartigen Flusssystems" zeigt. Der Clip wurde Teil einer internationalen Kampagne und einer Petition, die sogar prominente Unterstützer fand – darunter Leonardo DiCaprio.

An dieser Stelle hat unsere Redaktion Inhalte von Youtube integriert.
Aufgrund Ihrer Datenschutz-Einstellungen wurden diese Inhalte nicht geladen, um Ihre Privatsphäre zu schützen.

Doch die albanische Regierung erklärte die Vjosa zunächst zum Naturpark. Ein Teilerfolg, allerdings mit geringer Wirksamkeit. Wie mehrere Medien, darunter die "National Geographic" berichteten, hätte dieser Status nicht ausgereicht, um den Fluss vor tiefgreifenden Veränderungen durch Wasserkraftwerke oder Staudämme zu schützen. Politische Macht stehe über dem Gesetz, bemängelte Olsi Nika von EcoAlbania, einer Partnerorganisationen der "Save the Blue Heart"-Kampagne im Gespräch mit der "Deutschen Welle". Als Beispiel verwies er auf Pläne zum Bau eines Flughafens, der mitten im Naturschutzgebiet liegen soll.

In einem Naturschutzgebiet könne jeder machen, was er will, erklärte auch Michael Succow, ein deutscher Biologe und Agrarwissenschaftler. Ein Nationalpark hingegen "ist gesichert und kann auch von den EU-Finanzierungen profitieren", sagte der Wissenschaftler der "Deutschen Welle". Davon wollte die albanische Regierung zunächst nichts wissen. "Ein Nationalpark ist ein bisschen zu viel", sagte Premierminister Edi Rama der AFP im Mai 2021. Er sei der Meinung, dass diese restriktive Kategorisierung "die Aktivität von Zehntausenden von Menschen" untergraben würde.

Flusssystem von über 400 Kilometer Länge wird zum Nationalpark

Umso überraschender kam die Wende. Ein Jahr später unterzeichneten der Regierungschef, die albanische Ministerin für Tourismus und Umwelt, Mirela Kumbaro, und der CEO von Patagonia, Ryan Gellert, gemeinsam die Verpflichtung zur Schaffung des Nationalparks. Die Entscheidung der albanischen Regierung fiel gegen wirtschaftliche Interessen und trotz der weitreichenden Pläne, den Fluss als Energiequelle zu nutzen. Der internationale Schutzstandard soll die Vjosa in Zukunft vor der Zerstörung durch Firmen oder künftige Regierungen schützen. Am 13. März 2023 wurde der Schutz des Flusses gesetzlich verankert. Seitdem ist die gesamte Vjosa in Albanien von der griechischen Grenze bis in die Adria sowie ihre Hauptzuflüsse – insgesamt ein Flusssystem von über 400 Kilometer Länge – als Nationalpark ausgewiesen.

Luftaufnahme der Vjosa
Als "Symbol der menschlichen Geschichte und auch ein sehr wichtiger Teil der Geschichte unseres Landes" bezeichnet Mirela Kumbaro Furxhi, Ministerin für Tourismus und Umwelt in Albanien, die Vjosa.
© Nick St.Oegger

Die IUCN-Kategorie II als Status eines Nationalparks soll sicherstellen, dass der Wildfluss nach den höchsten internationalen Standards sowohl national als auch grenzüberschreitend geschützt wird. Laut Mitteilung von Patagonia werde die Vjosa damit "als lebendiger, frei fließender Fluss zum Wohle von Mensch und Natur erhalten". Und auch Premierminister Rama versprach: "Unter dem Schutzmantel des Nationalparks wird die Vjosa intakt bleiben, für Albanien, für Europa und für den Planeten, den wir für die Kinder unserer Kinder wollen." Am Ende sei der Sinneswandel der Politik wohl der "einzigartigen Koalition von Einheimischen, von albanischen und europäischen Umweltschützern sowie des global agierenden amerikanischen Unternehmens Patagonia" zu verdanken, mutmaßt die "FAZ".

 Albanien setzt an der Vjosa auf Ökotourismus

Die Weltnaturschutzunion IUCN nennt es einen "Meilenstein für die Menschen und die Artenvielfalt in Albanien", von einer "einzigartige Initiative für Europa und die Welt" und "neuen Standard in Sachen Naturschutz" spricht EcoAlbania. Das Zertifikat des Nationalparks könnte zudem eine Chance für nachhaltigen Tourismus darstellen. "Es ist höchste Zeit, aus den Fehlern anderer Länder zu lernen und Massentourismus zu verhindern, indem man Ökotourismus bevorzugt", betonte die Ministerin für Tourismus und Umwelt, Mirela Kumbaro, gegenüber der AFP.

Das Besondere an Albanien seien nicht die Strände, sondern die unentdeckte, unberührte Natur im bergigen Hinterland, sagte die Politikerin der "FAZ". Der Ökotourismus in der Vjosa-Region hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Aktivitäten wie Rafting, Kanuwandern, Kajakfahren, Schwimmen, Wandern stehen bereits hoch im Kurs bei Urlaubern, die die Region bereisen. Der Status des Nationalparks soll noch mehr Touristen anziehen, die den unberührten Wildfluss besichtigen wollen.

Die als Nationalpark ausgewiesene Zone umfasst laut dem "Spiegel" zunächst die Vjosa, ihr Flussbett und ihre drei wichtigsten Zuflüsse Drino, Bënça and Shushica. Auch ein Nationalparkzentrum soll geplant, ein Leitungsteam angestellt und Menschen aus der Region sollen zu Rangern ausgebildet werden. Im nächsten Schritt sollen weitere Nebenflüsse und Gebiete, die für das Ökosystem des Flusses wichtig sind, in den Park aufgenommen werden.

Quellen: "Deutsche Welle", EuroNatur, "Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Geo" (I), "Geo" (II), "Geo" (III) International Union for Conservation of Nature (IUCN), "National Geographic", Pressemitteilung des albanischen Ministeriums für Tourismus und Umwelt, der IUCN und Patagonia,  Save the Blue Heart of Europe, "Spiegel", ZDF

PRODUKTE & TIPPS