Vier Sekunden. Das ist das Limit. Vier Sekunden für 30 Meter, gemessen mit sechs Lichtschranken in einem fensterlosen Tunnel, unten im Keller des Leistungszentrums von RB Leipzig. Egal, wie präzise ein junger Fußballer Flanken schlagen mag, egal, wie feinfühlig er dribbeln kann – wenn er nicht wie ein Pfeil aus dem Startblock schießt, wenn er nur wenige Hundertstel langsamer als diese vier Sekunden läuft, schafft er es nicht in die Leipziger Nachwuchs-Akademie, die modernste Deutschlands. Dann ist sein Weg hier zu Ende.
Tempo ist alles in Leipzig, und so erobert der Klub auch die Bundesliga: im Sturmlauf. Acht Siege, drei Unentschieden, Platz eins in der Tabelle, drei Punkte vor dem großen FC Bayern. Und das als Neuling, aufgestiegen erst in diesem Sommer.
RB Leipzig und sein Pitbull-Fußball
Leipzig spielt einen Pitbull-Fußball, wie ihn die Liga noch nicht erlebt hat. Jüngst musste Leverkusen leiden, davor Mainz 05. Schon nach drei Minuten lag man zurück in der Red Bull Arena; gehetzt von einer Leipziger Meute, die jedem Ball nachjagte und bissig blieb bis in die Nachspielzeit. Immer wieder setzten die Sachsen gefährliche Konter; es schien, als wateten die Mainzer Verteidiger durch ein Kneipp-Becken – so blitzschnell, so gradlinig zog Leipzig sein Angriffsspiel auf.
"Sie haben uns einfach überrannt", stöhnte der Mainzer Trainer Martin Schmidt nach der 1:3-Niederlage. "Aber was willst du machen?" Bislang hat die Bundesliga noch keine Antwort gefunden.
Ralf Rangnick, den Sportdirektor von RB, erfüllt das mit verborgenem Stolz. "Wir erleben einen schönen Moment, mehr nicht", sagt er. "Unsere Entwicklung ist noch lange nicht am Ende." Es gehört zu seinem Selbstverständnis, jeden Anflug von Zufriedenheit zu ersticken und stets an das große Ziel zu erinnern: Aus RB Leipzig soll ein europäischer Spitzenklub werden, eine Macht in der Champions League.
Rangnick, 58, sitzt in seinem Büro im Obergeschoss des Trainingszentrums, einem 33 Millionen Euro teuren Glas-Stahl-Komplex, erbaut 2015. Als er vor knapp viereinhalb Jahren seine Arbeit in Leipzig begann, standen hier nur Wohncontainer.
Damals spielte der Verein noch in der vierten Liga, aber Rangnick verfügte über nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Er holte Spieler und Trainer, die auch höherklassig hätten arbeiten können, und das Geld dazu stellte Dietrich Mateschitz bereit, Chef des Limonaden-Imperiums Red Bull. Heute stehen die Buchstaben "RB" im Klubnamen offiziell für das Kunstwort "RasenBallsport" – und nur deshalb nicht für Red Bull, weil die Nennung von Sponsoren im Vereinstitel laut Ligasatzung verboten ist.
Ralf Rangnick: "Man muss uns nicht mögen"
"Man muss uns nicht mögen, das erwarten wir auch gar nicht", sagt Rangnick. Er kennt die Vorwürfe seit Jahren: Kommerzklub, Marketing-Marionette, Totengräber des Traditionsfußballs. Gerade in den unteren Ligen ist Leipzig überkübelt worden mit Anfeindungen.
Aber es dreht sich etwas in dieser Saison, zum ersten Mal. Wut und Schmährufe ebben ab; es gab eine Blockade des Mannschaftsbusses in Köln, einige Spruchbänder in den Stadien – das war es aber auch schon.
Inzwischen, so scheint es, wird Leipzig respektiert, mitunter sogar bewundert für seinen Hochgeschwindigkeitsfußball. Auch deshalb, weil da nicht eine Truppe arrivierter, teurer Stars aufläuft, sondern es sind junge Spieler, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen.
"Dass wir viel Geld für einen 30-Jährigen ausgeben, wie dies andere Vereine tun, wird es unter meiner Führung nicht geben", sagt Rangnick. "Wir holen generell niemanden in dieser Altersklasse. Ich möchte ein hungriges Team. Ich möchte, dass sich Spieler bei uns weiterentwickeln und ein neues Level erreichen."
In Rangnicks Büro steht eine querformatige Tafel, gehalten von einem Holzgestell. Es sieht aus wie die Staffelei eines Malers. Rangnick hat hier seine Termine in ein Raster eingetragen. Viel Weißraum ist nicht geblieben. Er schaut sich alles an, das Training der Bundesligamannschaft, die Nachwuchsteams U17, U19 und U23.
Rangnick hat ein Auge für Talente wie nur wenige andere Sportchefs in Deutschland. Einst führte er den Dorfklub Hoffenheim mit hochbegabten, aber weithin unbekannten Spielern in die erste Liga und wurde gleich Herbstmeister. Jetzt will er mit Leipzig einen noch größeren Schritt tun. Er will zeigen, dass sein juveniler Fußball nicht nur als Überrumplungstaktik für eine Saison taugt, sondern nachhaltig Erfolg garantiert.
Das RB-Mantra: Pressing und schnelles Umschalten
Rangnicks wichtigster Mann ist Frieder Schrof. Der 61 Jahre alte Schwabe leitet seit 2013 die Nachwuchs-Akademie, zuvor arbeitete er in gleicher Funktion beim VfB Stuttgart. Möglichst früh soll er die Leipziger Spielidee vermitteln; die Kinder üben deshalb nach ähnlichen Plänen wie die Profis. Pressing und schnelles Umschalten – das ist das Mantra der RB-Spieler, jeden Alters, jeden Tag.
Schrofs Job, zu dem auch das Sichten von Talenten gehört, ist schwieriger geworden in den vergangenen Jahren. "Der Kampf um die Besten wird immer härter", sagt er, "wie jeder ambitionierte Verein müssen auch wir sehr früh schauen, wer für uns interessant sein könnte." Mittlerweile würden schon sechsstellige Summen geboten, um 14 oder 15 Jahre alte Spieler aus Verträgen herauszukaufen.
Ein Talent jung zu binden bedeutet eine riskante Wette: Der Weg in den bezahlten Fußball ist weit und unwägbar. Wer weiß schon, wie diese Spieler, beinahe Kinder noch, später einmal als Männer sein werden? Hält ihr Körper den Härten des Profisports stand? Ihre Leidenschaft? Ihre Seele?
In seiner Stuttgarter Zeit formte Schrof spätere Nationalspieler wie Sami Khedira, Mario Gomez oder Thomas Hitzlsperger. 150 Talente machte er zu Bundesligaspielern; Schrofs Akademie brachte dem VfB weit mehr als 100 Millionen Euro aus Transfererlösen.
Frieder Schrof ist ein sehr erfahrener Mann, doch nur auf Erfahrung und Bauchgefühl will er sich beim Scouting nicht verlassen. Rangnick und er glauben an die Vermessbarkeit des Fußballs. Sie glauben, dass sie das Zufällige und Irrationale dieses Sports bannen können, wenn sie nur genug Daten erheben.
Jeder junge Spieler, der als Kandidat für die Aufnahme ins Internat gilt, wird penibel analysiert. Schnelligkeit, Sprungkraft, Reaktionsvermögen der Pupillen, dazu Blutparameter wie Kreatinkinase, das Rückschlüsse auf den Energiestoffwechsel ermöglicht. Alle Resultate werden ins sogenannte RB-Lab eingespeist, einen zentralen Datenpool, der von allen Trainern des Vereins abgerufen werden kann.
"Ich hatte viel Gutes über RB gehört"
Dominik Martinovic zählt zu jenen Talenten, auf die sie große Stücke halten. Er ist 19 Jahre alt, ein Stürmer von sehniger Statur, den rotblonden Pony hat er sich mit Gel windschief aufgestellt. Die 30 Meter im Lauftunnel schafft er in unglaublichen 3,80 Sekunden. Er kommt vom FC Bayern, stand dort drei Jahre unter Vertrag, musste jedoch 18 Monate wegen zweier Muskelbündelrisse aussetzen. "Ich hatte viel Gutes über RB gehört", erzählt er, "aber als ich zum ersten Mal hier war und die Akademie sah, da dachte ich: Wow."
Jemanden wie Martinovic wieder aufzurichten, einen Hochbegabten, mit dem die Konkurrenz keine Geduld mehr hatte, auch das gehört zum Leipziger Plan. Schon einmal profitierte RB von der Fehleinschätzung eines etablierten Klubs. Beim VfB Stuttgart glaubten sie einst, der U19-Spieler Joshua Kimmich sei zwar ein toller Fußballer, aber körperlich noch nicht in der Lage, bei der Drittligamannschaft mit zu trainieren. Kimmich jedoch wollte unbedingt. Schrof erfuhr davon und holte Kimmich zu RB Leipzig, das 2013 ebenfalls in der dritten Liga spielte. Schnell zählte Kimmich zum Stammpersonal, wurde in die "Kicker-Elf des Jahres" gewählt und wechselte zwei Jahre später zum FC Bayern. Heute ist er bei den Münchnern gesetzt und Nationalspieler. Geschätzter Marktwert: 20 Millionen Euro.
Noch sucht RB Leipzig sein Glück in der Nische. Beim Wettbieten um die größten Talente will Sportdirektor Rangnick jedenfalls nicht um jeden Preis mitmachen. Der Schweizer Stürmer Breel Embolo, 19, sollte knapp 30 Millionen Euro Ablöse kosten – zu viel für Leipzig, nicht jedoch für den FC Schalke. Auch an Kevin Volland aus Hoffenheim waren Rangnick und Schrof interessiert, doch sein Gehalt hätte das vereinsinterne Limit durchbrochen. Er ging nach Leverkusen.
In Leipzig verdient kein Spieler mehr als drei Millionen Euro pro Saison. Mit einem Personaletat von etwa 35 Millionen Euro liegt RB im unteren Mittelfeld der Liga, weit entfernt von Bayern, Wolfsburg und Dortmund, die das Drei- bis Vierfache ausgeben.
Rangnick hat RB Leipzig wie ein Start-up aufgestellt, das die Dickschiffe mit Tempo und Wendigkeit angreifen will – auf dem Platz und in der Organisation. Die Führungsmannschaft des Klubs ist klein. Es gibt keine Einflüsterer, keine Wichtigtuer wie bei Traditionsklubs, wo Entscheidungen oftmals verschleppt und zerredet werden, weil alle Altvorderen noch gehört werden wollen.
RB macht sich die Trägheit der Etablierten zunutze
Die Trägheit der Etablierten macht sich RB zunutze. Bei der Verpflichtung des Schotten Oliver Burke etwa, der auch von Manchester United und Arsenal London beobachtet wurde, fiel die Kaufentscheidung binnen Stunden. Zehn Millionen Euro zahlte Leipzig an Nottingham Forest.
"Wenn der Fall durch alle Gremien hätte gehen müssen, wäre der Spieler heute nicht hier", sagt Rangnick. Er hat das letzte Wort bei Transfers.
Der Preis, den RB für die schlanken Strukturen zahlt, ist mangelnde Transparenz. Der Verein besitzt zwar knapp 700 Mitglieder, aber nur 17 davon sind stimmberechtigt. Fans sind als Kulisse im Stadion willkommen, sollen aber nicht mitbestimmen. Bei RB achten sie sehr darauf, dass ihnen niemand reinredet. Und auch von oben, von Red-Bull-Chef Dietrich Mateschitz, wird RB Leipzig in Ruhe gelassen. Trotz der atemberaubenden Erfolge ist Mateschitz noch nicht zu Besuch gewesen in dieser Saison. Er hat sich für das letzte Spiel des Jahres angekündigt, am 21. Dezember geht es in München gegen den FC Bayern.
Diesen Klub gilt es vom Thron zu stoßen. Ein Konzern wie Red Bull, der einen Mann vom Weltall auf die Erde springen ließ, hält natürlich auch das für machbar.