Thomas Tuchel musste sich setzen. Klar, nach diesen aufreibenden Wochen. Um den Überblick zu behalten und um – auch symbolisch – seinen Spielern näher zu sein, zog der Trainer des FC Bayern München in der ersten Halbzeit des Heimspiels gegen RB Leipzig einen Aluminium-Koffer der Zeugwarte nach vorne. Weg von der Ersatzbank, näher an die Seitenlinie. Da saß er nun, der Mann, über dessen Job und Angestelltenverhältnis, das zum 30. Juni vorzeitig beendet wird, seit Tagen intensivst debattiert wird. Er zeigte mal den Daumen nach oben, schimpfte, machte sich Notizen. Der Mann, der an der Säbener Straße schon länger ein Trainer auf Abruf war und nun nur noch ein Trainer auf Zeit. Der Mann auf dem Alukoffer. Ein Schelm, wer noch Symbolischeres dabei dachte.
Während der Pressekonferenz nach dem spät erzielten 2:1-Erfolg kam aus dem Auditorium die provokant gestellte Frage nach der ungewöhnlichen Sitzgelegenheit. "Können Sie verraten, was in der Kiste drin war? Und darf man es so interpretieren, dass sie auf gepackten Koffern sitzen?" Der 50-Jährige antwortete dann mit spöttischer Ironie: "Genau so war es gedacht. Das habe ich extra mitgebracht von zu Hause. In dem Aluminiumkoffer sind alle Sachen schon gepackt. Schön, dass es so angekommen ist." Während Tuchel die Wut über die Frage herunterschluckte, hatte er die Lacher auf seiner Seite. Nochmal gut gegangen. Tuchel hatte sich im Griff – was tatsächlich eine Herausforderung war.
Schon die ganze letzte Woche über, nach drei Niederlagen in drei Pflichtspielen. Dem demütigenden 0:3 bei Tabellenführer in Leverkusen, dem unnötigen 0:1 im Achtelfinal-Hinspiel in der Champions League bei Lazio Rom und schließlich am Sonntag vor einer Woche dem unglücklichen 2:3 bei Abstiegskandidat VfL Bochum. Die Welt des FC Bayern war aus den Fugen geraten– und, um im Bild des Abends zu bleiben, der Trainerstuhl von Tuchel heftig ins Wanken. Am Dienstag lud Vorstandsboss Jan-Christian Dreesen den Chefcoach, der seinen Job als Nachfolger des überraschend entlassenen Julian Nagelsmann Ende März 2023 mit einer Bedenkzeit von nur 48 Stunden angetreten hatte, zum Vier-Augen-Gespräch. Tags darauf verkündete der Verein, dass man sich trotz des bestehenden Vertrages bis Sommer 2025 am Saisonende vorzeitig trennt. Laut Dreesen sei es das Ziel des Klubs, in der kommenden Saison "eine sportliche Neuausrichtung mit einem neuen Trainer vorzunehmen".
Thomas Tuchel hat bei der Trainerwahl "nicht alle Trümpfe in der Hand"
In einem "offenen, guten Gespräch" sei man mit Tuchel "einvernehmlich" (Dreesen) zu diesem Entschluss gekommen. Einvernehmlich? Wer am Samstagabend bei den Aussagen des Trainers zwischen den Zeilen gut hinhörte, mag zu einer anderen Conclusio gekommen sein. "Als Arbeitnehmer haben sie nicht alle Optionen, nicht alle Trümpfe in der Hand", sagte Tuchel im ZDF verschmitzt lächelnd und fügte schnippisch hinzu: "Wenn diese eine Woche ausreichend Anlass ist, diese Entscheidung zu treffen, muss ich das akzeptieren. Persönliche Befindlichkeiten werden hintenangestellt."

Er wiederholte seine Sicht der Dinge, die er schon am Freitag mit bemerkenswert authentischen und ehrlichen Aussagen auf einer sehr speziellen Pressekonferenz zu seiner Verteidigung angebracht hatte. "Ich glaube nicht, dass ich das Problem bin und das Verhältnis zu meinen Spielern, aber ich bin der Verantwortliche." Tuchel betonte, keinesfalls der Alleinschuldige für die Misere (mit acht Punkten ein aussichtslos erscheinender Rückstand in der Meisterschaft, das Aus im DFB-Pokal und das drohende, viel zu frühe Scheitern im Achtelfinale der Champions League) zu sein – und sein zu wollen. Sein Kernsatz dabei: "Es gibt Klarheit, und Klarheit gibt Freiheit." Was er auf die Mannschaft und die künftige Wahl des Personals bezog: "Es gibt eine Freiheit in den Entscheidungen, wie man agiert. Du brauchst bei den Entscheidungen nicht mehr abwägen, was das für eine Langzeitwirkung hat." Es fiel das Wort "rücksichtlos". Und so stellte er den Sechser Joshua Kimmich gegen Leipzig – auch in Ermangelung von Spezialisten, die allesamt verletzt fehlten − als Rechtsverteidiger auf. Was dem Nationalspieler nicht so schmeckt wie die wichtigere Rolle im Zentrum. Das war es, was Tuchel mit dem Ende der persönlichen Befindlichkeiten meinte.
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Nach der bekanntgegebenen Scheidung auf Sicht, ohne jedoch eine sofortige Trennung zu vollziehen, stellte sich vor der Partie gegen Leipzig die Frage, welche Auswirkungen dies haben würde. Nimmt dieser Schritt der Mannschaft nun die Verkrampfung, ja das "Verkopfte" im Spiel wie Thomas Müller es auf den Punkt gebracht hatte? Können sich alle Beteiligten sich trotz des sportlichen Anti-Laufs und der atmosphärischen Störungen für rund drei Monate zusammenreißen? Oder wird aus Tuchel, der versprach, er werde mit seinem Trainerteam "kein Prozent nachlassen", eine "lame duck", eine lahme Ente? Sprich: Ein Entscheider, dessen Einfluss und Autorität schwindet? Tanzen die Spieler ihrem scheidenden Trainer nun (endgültig) auf der Nase herum, weil er bald ohnehin weg ist?
Ein kurzer Moment der Erleichterung beim FC Bayern
Der Samstagabend in der Allianz Arena bewies das Gegenteil. Torjäger Harry Kane sorgte mit seinen Saisontreffern Nummer 26 und 27 für den ersehnten Erfolg. Die Dramaturgie mit dem Siegtreffer in der Nachspielzeit soll nun neuen Schwung bringen. "Wir sind mega-happy", gestand Kapitän Manuel Neuer, "wir haben auch mal so ein Last-Minute-Tor hintenraus gebraucht." Und Müller meinte: "Aufgrund der vergangenen Spiele freut es mich, dass der Spielverlauf am Ende auch ein bisschen glücklich für uns war." Die Erleichterung über den Erfolg erlaubte den Protagonisten eine ehrliche Reflexion des Geschehenen.
"Es wirft ein schlechtes Bild auf uns alle, auf die Mannschaft, die Spieler. Jeder Spieler sollte ein schlechtes Gewissen haben und sich an die eigene Nase fassen. Weil wir es nicht geschafft haben, das Ganze mit einem Top-Trainer weiterzuführen", sagte Neuer bei Sky und zog einen Vergleich heran: "Es ist nicht immer so wie in der Schule, dass immer der Lehrer schuldig ist an den schlechten Zeugnisnoten." Führen eine gewisse Reue und die Erkenntnis der Mitschuld von Seiten der Mannschaft doch noch zu einem versöhnlichen Ausgang der Bayern-Saison? Verhilft das Team Tuchel, dessen Ruf als Welttrainer in den vergangenen elf Monaten in der Mühle FC Bayern mitsamt dem "extremen Tagesgeschäft" (Müller) gelitten hat, zu einer Rehabilitierung? Müller, der noch während der Partie am Spielfeldrand mit Tuchel scherzte, sagte: "Es ist schon signifikant, dass wir in den Anfängen der Spiele, wo man den Matchplan noch eher umsetzen kann, wesentlich besser spielen. Das Tischtuch ist also nicht völlig zerschnitten, auch wenn wir Probleme hatten."
Auch die Bosse schwenkten am Samstagabend ein in den strategisch einzig richtigen Kuschelkurs. "Wenn der FC Bayern dreimal hintereinander verliert, dann müssen wir uns alle hinterfragen. Die Mannschaft, der Trainer, wir in der Führung. Das ist nicht unser Anspruch", betonte Präsident Herbert Hainer, der darüber hinaus sagte: "Wir haben jetzt drei Trainer innerhalb nicht allzu langer Zeit (Hansi Flick, Nagelsmann und Tuchel, d.Red.) ausgetauscht. Das spricht nicht unbedingt für uns." Derweil betonte Vorstandsboss Dreesen: "Wir wollen wieder mehr Kontinuität auf dem Trainerstuhl. Das ist das, was wir anstreben." Für die Kontinuität soll ab Sommer Mister X sorgen – sei es nun Xabi Alonso, der baldige Leverkusener Meistermacher, Stuttgarts Chefcoach Sebastian Hoeneß oder ein international hochdekorierter Fachmann wie Zinedine Zidane.
Über den Neuen wird auch Max Eberl entscheiden. Am Montag wird dessen Berufung durch Bayerns Aufsichtsrat abgesegnet, so dass der 50-Jährige seinen Job als Sportvorstand zum 1. März, also kommenden Freitag, antreten kann. Dann bleiben ihm knapp drei Monate, um gemeinsam mit dem Trainer auf Zeit die Saison anständig zu beenden. Nach dem Erfolg gegen Leipzig, seinem ersten in vier Pflichtspielen mit den Münchnern, sagte Tuchel gelöst: "Wer weiß, wo uns dieser Sieg noch hinführt." Für kuriose Wendungen ist der Fußballgott immer zu haben.