Nach dem Gewinn des Europameistertitels 1972 und der Weltmeisterschaft im eigenen Land 1974 schien Deutschland auf unabsehbare Zeit eine unantastbare Vormachtstellung im europäischen Fußball einzunehmen. Bayern München gewann drei Mal in Folge den Europapokal der Landesmeister und auch ihr großer nationaler Konkurrent, Borussia Mönchengladbach präsentierte sich als europäisches Spitzenteam.
Aber gleichzeitig begann ein Verfallsprozess der Nationalelf, der - spätestens - nach dem Gewinn des Weltmeistertitels begonnen hatte und eine Reihe von Ursachen hatte. Zunächst gab es immer wieder Unstimmigkeiten mit dem DFB und dem schwächer werdenden Bundestrainer Helmut Schön. Mit Gerd Müller trat der Stürmerstar aus der Nationalelf zurück, dessen Tore die Titel erst möglich gemacht hatten, auch der Frankfurter Jürgen Grabowski, in der Bundesliga noch in absoluter Topform stand nicht mehr zur Verfügung, der alternde Wolfgang Overath war ebenfalls zurück getreten.
Unheilvoll wirkte sich auch die DFB-Politik aus, keine "Legionäre" mehr zu berufen, dadurch standen die zu Real Madrid gewechselten Günther Netzer und Paul Breitner nicht mehr zur Verfügung.
Die dominanten Vereinsblöcke hatten also an Einfluss verloren, die Strukturen waren nicht mehr so klar wie zuvor. Bundestrainer Helmut Schön tat sich schwer, Antworten auf die offenen Fragen zu finden und einer neuen Formation das Vertrauen zu schenken. So war die Qualifikation geprägt von Experimenten und Kurzauftritten, "Eintagsfliegen", die keine großen Eindrücke hinterließen. Vor allem das Mittelstürmerproblem blieb bis zur EM ungelöst.
Dieter Müllers größte Stunde
Im Jugoslawien Titos traf man in diesem milden Juni 1976 im Halbfinale auf die überraschend starken Gastgeber - ein Halbfinalspiel, das schon deutliche Defizite der deutschen Mannschaft offenbarte, die vor allem mit den jugoslawischen Flügelstürmern massive Probleme hatte und vollkommen verdient zur Halbzeit bereits mit 0:2 zurück lag.
Dann gelang Schön nochmal ein genialer Schachzug von der Bank: Zunächst wechselte er in dem Kölner Overath-Nachfolger Heinz Flohe für den blassen Dietmar Danner einen schwungvollen neuen Regisseur ein, der prompt den Anschlusstreffer erzielte (65.), dann gab er einem 22-Jährigen Stürmer die Chance für ein Länderspieldebut in dieser verzweifelten Situation - Dieter Müller vom 1. FC Köln. In der 79. Minute eingewechselt, erzielte der Nachwuchsmann mit seinem ersten Ballkontakt das 2: 2, es gab Verlängerung. In der folgenden halben Stunde erzielte Dieter Müller zwei weitere Treffer, nie hat es eindrucksvolleres Länderspieldebut gegeben und Deutschland stand im Finale.
Die Nacht von Belgrad
Am 20. Juni 1976 traf die deutsche Mannschaft auf die Tschechoslowakei, den krassen Außenseiter, die aber im anderen Halbfinale die Holländer bezwungen hatten. Die Öffentlichkeit hatte den Halbfinalsieg begeistert aufgenommen, Dieter Müller wurde als "neuer Gerd Müller" gefeiert und ein Sieg im Finale schien nur noch Formsache zu sein. Natürlich fand der neue Nationalheld auch seinen Platz in der Anfangsformation, flankiert von den Weltmeistern Hoeness und Hölzenbein. Und Müller traf erneut, allerdings traf er diesmal zum Anschlusstreffer nach dem erneuten 0:2-Rückstand. Wie schon im Halbfinale hatte die deutsche Abwehr im 100. Länderspiel von Franz Beckenbauer große Probleme, waren es im Halbfinale die Jugoslawen Popivoda und Dzajic, so machte im Finale vor allem Nehoda die deutsche Abwehr immer wieder ratlos. Erneut brachte die Einwechslung von Flohe wertvolle Impulse und die enormen kämpferischen Qualitäten des Titelverteidigers sorgten für einen erneuten späten Ausgleich, diesmal durch Hölzenbein und wieder eine Verlängerung.
Die Regeländerung mit einem Elfmeterschießen war neu, vielleicht tat sich auch deswegen so wenig in der Verlängerung dieses Spiels. Als der Italiener Gonella vor 35.000 Zuschauern nach 120 Minuten die Begegnung abpfiff, kam es zur ersten Entscheidung eines großen Turniers von dem ominösen Punkt, nicht mehr die komfortable Ansetzung eines Wiederholungsspiels, sondern die schnelle, brutale Entscheidung. In den folgenden Jahrzehnten sind hier Helden und Versagermythen entstanden, oft positiv aus deutscher Sicht, aber bei dieser Premiere war es nicht so.
Das Ende einer Ära
Bis zum 5:5 trafen alle Schützen, Masny, Nehoda und Ondrus für die CSSR, Bonhof, Bongartz und Flohe für Deutschland. Dann tritt Vladislav Jurkemik an, verwandelt sicher, 6:5 für den Außenseiter. Ulli Hoeneß legt sich den Ball zurecht, einer der verbliebenen Welt- und Europameister aus dem Bayern-Block, läuft an - und schießt weit über das Tor in den Nachthimmel über der jugoslawischen Metropole. Eine Schocksekunde. Einige deutschen Spieler sitzen zusammen gekauert auf dem Rasen. Schreie im Publikum. Aber schon schreitet der nächste Tscheche zum Punkt, Antonin Panenka. Deutschlands Hoffnungen ruhen jetzt nur noch auf Sepp Maier, der "Katze von Anzing". Panenka wählt einen kurzen Anlauf, Maier hechtet mit dem Mut der Verzweiflung in die linke Ecke, aber der Schütze schlenzt den Ball aufreizend lässig in die Tormitte, halbhoch, überlegen, den Keeper demütigend. 7:5 - die CSSR ist Europameister, der Nimbus der deutschen Unbesiegbarkeit ist gebrochen.
Für den Staat Tschechoslowakei war es der größte Abend in der Fußballgeschichte, aber für Deutschland war es das Ende einer Ära. Franz Beckenbauer sollte nur noch drei Länderspiele bestreiten und auch für Uli Hoeneß war es das letzte Turnier mit der Nationalelf. Helmut Schön sollte nie mehr eine stabile Elf finden, er verabschiedete sich zwei Jahre später mit der Schmach von Cordoba.
Die Finalelf von Belgrad: Sepp Maier, Berti Vogts, Franz Beckenbauer, Georg Schwarzenbeck, Bernhard Dietz, Josef Wimmer (46. Heinz Flohe), Rainer Bonhof, Erich Beer (79. Hannes Bongartz), Uli Hoeneß, Dieter Müller, Bernd Hölzenbein.