Seit den großen Zeiten des polnischen Fußballs in den 70er und 80er Jahren mit zwei dritten Plätzen bei Weltmeisterschaften (1974 und 1982) wartet unser Nachbarland auf die nächste Goldene Generation. In diesem Jahr könnte es wieder so weit sein, Polen ist EM-Gastgeber und hat einige großartige Spieler im Kader.
Das macht das polnische Team nicht sofort zu einem Turnierfavoriten, wie es der tschechische Gruppengegner Petr Jiracek unlängst behauptete. Aber auch unsere Redaktion traut Polen eine starke EM zu, deshalb haben wir sie als klaren Außenseiter in unsere Serie über die EM-Favoriten aufgenommen:
3 Gründe: Deshalb wird Polen Europameister
1. Seit 1980 sind die Gastgeber von Europameisterschaften automatisch qualifiziert. Und seitdem sind erst drei Gastgeberländer in der Vorrunde ausgeschieden, mit Belgien 2000 sowie Österreich und der Schweiz vor vier Jahren traf es allerdings auch jeweils Nationalteams, die nicht zur Weltspitze gehörten. Das ist nun in Polen nicht anders, trotzdem kann der Heimvorteil zum wichtigsten Baustein werden. Gewinnt Polen das erste Spiel gegen Griechenland, werden die Biało-Czerwoni (die Rot-Weißen) von einer Welle der Begeisterung getragen.
2. Auf der Suche nach Gründen für eine gute Europameisterschaft der Polen kommt man nicht an den Spielern von Borussia Dortmund vorbei. Robert Lewandowski ist einer der besten Stürmer der Bundesliga, Jakub Blaszczykowski avancierte mit sechs Toren und zehn Vorlagen zum perfekten Götze-Ersatz und und Lukasz Piszczek war der notenbeste Abwehrspieler der Saison. Nun muss das Trio nur noch dem Druck standhalten, wie auch Smuda bei fifa.com betont: "Ich denke, sie können das schaffen. Sie sind schon erfahrene Spieler, obwohl sie erst 25 oder 26 sind. Für unsere Mannschaft sind sie das Skelett.
3. Im polnischen Kader gibt es noch einen vierten Spieler, der internationale Klasse verkörpert. Wojciech Szczesny ist Torwart, spielt beim FC Arsenal in der Premier League und gehört für unsere Redaktion zu den fünf besten Keepern der EM. Bei den Gunners hatte er einen schwierigen Start und wurde erst zur Nummer 1, als Manuel Almunia und Lukasz Fabianski verletzt ausfielen. Seitdem glänzt der extrovertierte Szczesny aber regelmäßig mit tollen Leistungen, wie Deutschland beim 2:2 im Test im vergangenen September (sportal.de-Note 2) selbst feststellen konnte.
3 Gründe: Das spricht gegen den EM-Titel
1. Seit den Qualifikationsspielen zur WM 2010 hat Polen kein Pflichtspiel mehr bestritten. Das hat Smuda zwar die Zeit gegeben, viele Dinge auszuprobieren, doch die insgesamt 20 Testspiele (zehn Siege, sieben Remis, drei Niederlagen) haben eins gezeigt: Es fehlt die Tiefe im Kader. Torhüter Szczesny darf sich wie das Trio vom BVB nicht verletzen, aus sportlicher Sicht tut sogar der Verzicht auf Kölns Slawomir Peszko weh einem Mitläufer bei Absteiger Köln.
2. Ein Blick auf die reinen Ergebnisse der 20 Testspiele ließe den Schluss, Polen steht vor allem in der Abwehr sicher. In diesem Jahr ist das polnische Team noch ohne Gegentor, neben Portugal gab es mit Lettland, Slowakei und Andorra aber auch nur kleine Gegner. Trotzdem ist die Defensive insgesamt die Achillesferse der Biało-Czerwoni und hier vor allem die Innenverteidigung. Der unbewegliche Marcin Wasilewski (Anderlecht) gilt als gesetzt, daneben soll der in Frankreich geborene Damien Perquis (Sochaux) trotz längerer Verletzungspause für Sicherheit sorgen. Gerade im Vergleich mit den großen Nationen ist Polen in der Abwehr zu schwach besetzt.
3. Polen stellt nach Deutschland den zweitjüngsten Kader der Euro 2012. Was beim DFB-Team aber als positiver Faktor gilt, weil Youngster wie Mesut Özil, Mario Götze oder Holger Badstuber schon früh bei Topclubs Verantwortung übernommen haben, gibt bei den Polen eher Anlass zur Sorge. Die fehlende Erfahrung in engen Spielen auf hohem Niveau könnte dem Gastgeber spätestens ab dem Viertelfinale Schwierigkeiten bereiten, wenn aus der deutschen Gruppe B in jedem Fall ein wirklicher Mitfavorit warten wird.
Der Schlüsselspieler: Robert Lewandowski
"In unserer Mannschaft ist jeder Spieler sehr wichtig", erzählte Rechtsverteidiger Lukasz Piszczek bei fifa.com. "Wir wissen, dass wir mit nur einer einzelnen Person nichts gewinnen können." Damit hat der Double-Gewinner aus Dortmund sicherlich Recht, ohne einen Robert Lewandowski in Topform wird es für Polen bei der Heim-EM richtig schwer.
Der Stürmer hat in Dortmund eine sensationelle Entwicklung genommen. Lewandowski kam zwar als Fußballer des Jahres in Polen und als Torschützenkönig bei Lech Posen in die Bundesliga, aber bis zu Beginn der zweiten Meistersaison musste Lewandowski mit einem Vorurteil leben: Er sei ein Chancentod. Doch in dieser Saison hat er es allen gezeigt: Lucas Barrios verdrängt, 22 Saisontore erzielt, Matchwinner im Pokalfinale und damit auf der Einkaufsliste vieler Topclubs.
Auf Lewandowski, der als spielstarker und technisch versierter Mittelstürmer jederzeit anspielbar ist, ruhen aber auch deshalb viele Hoffnungen, weil in Polens Kader ein zweiter Stürmer von internationaler Klasse fehlt. Auch deshalb hat Trainer Frantisek Smuda Taktik und System auf das in Dortmund gespielte 4-2-3-1 umgestellt. "Ich glaube, wir haben jetzt eine richtig gute Mannschaft", sagte Lewandowski bei fifa.com zu den Umstellungen. "Alles funktioniert richtig gut."
So ist die Stimmung in Polen
Im deutschen Nachbarland ist von EM-Stimmung noch nicht viel zu merken. Die beiden Maskottchen Slavek und Slavko versuchen in Warschau, Breslau, Danzig und Posen zwar für entsprechende Begeisterung zu sorgen, doch rot-weiße Fahnen prägen das Bild in den EM-Städten noch nicht. Insider wie der ehemalige polnische Nationalspieler Andrzej Rudy rechnen aber pünktlich zum Eröffnungsspiel gegen Griechenland mit großer Begeisterung um die Biało-Czerwoni.
Rein sportlich wird in Polen das Erreichen des Viertelfinales als Erfolg gewertet, auch wenn die Gruppe dankbar ist. Kapitän Blaszczykowski hält den Auftakt gegen den Europameister von 2004 auch für die Stimmung im Land entscheidend: "Das erste Spiel ist das allerwichtigste, es wird praktisch ein kleines Finale für uns sein", sagte Kuba gegenüber uefa.com.
Ansonsten kämpft die polnische Bevölkerung mit der zum Teil negativen EM-Berichterstattung im restlichen Europa. Rassismus-Vorwürfe wurden verbreitet, die Infrastruktur in Polen sei nicht ausreichend, ausländische Fans würden finanziell ausgebeutet werden und auch bei der Hooligan-Problematik fühlen sich die Polen in ein falsches Licht gerückt. Einer Umfrage zufolge freuen sich nur noch 48 Prozent der Polen über die Gastgeberrolle bei der Euro 2012.
Marcus Krämer