Manchmal war es nicht ganz klar, worin das eigentlich wahre Talent des Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt bestand: War es seine Fähigkeit zuzuhören? Seine Diagnosekunst? Seine Tinkturen? Seine magischen Händchen – sowohl für Muskeln als auch fürs Geschäft sowie fürs Selbstmarketing? Vermutlich alles zusammen hat aus dem Pastorensohn aus Ostfriesland den bekanntesten Sportmediziner des Landes gemacht. Fast 40 Jahre lang doktorte er an den Spielern des FC Bayern München herum, fast 20 Jahre an denen der Nationalelf, zudem an unzähligen anderen Promis wie Boris Becker, den Sprintern Linford Christie und Usain Bolt, Skispringer Sven Hannawald und Franziska van Almsick. Dr. Feelgood wurde er mal genannt. Für Freunde und Patienten war er einfach nur "Doc" oder "Mull".
Doch plötzlich ist alles vorbei. Völlig überraschend schmiss der 72-Jährige seinen Job beim Rekordmeister hin. Warum? Angeblich sei ihm die Schuld für die Champions-League-Niederlage gegen Porto gegeben worden. Gemunkelt wird auch, Trainer Pep Guardiola sei verärgert über die zu lange Krankschreibung von Frank Ribery, einem seiner wichtigsten Spieler.
Dass der Wunderarzt dazu neigt, seine Patienten länger als vielleicht nötig zu schonen, haben schon öfter andere Kollegen moniert. "Damit ihre vorzeitige Rückkehr ihn als Wunderheiler erscheinen lässt", wie der frühere Dortmunder Vereinsarzt Jürgen Selmann sagte. Und wenn es stimmt, was kolportiert wird, dann war das Verhältnis zwischen ihm und Guardiola sowie einigen aus der Klubführung schon länger angespannt. Obwohl die Bayern eigentlich für ihre Loyalität gegenüber altverdienten Mitarbeitern bekannt sind. Müller-Wohlfahrt war zusammen mit Uli Hoeneß und Co-Trainer Hermann Gerland die Ikone des Vereins.
Als Kind wollte er Fußballer werden, doch in seinem Heimatort Leerhafe gab es keinen Sportplatz. Also hielt er sich mit Laufen fit und fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad 15 Kilometer nach Jever zur Schule. Während des Studiums der Medizin in Kiel und Berlin erhielt er die Chance, als Teamarzt von Hertha BSC Berlin praktische Erfahrungen zu sammeln. Später sagte er über diese Zeit, dass es vor allem die Spieler gewesen seien, von denen er gelernt habe. Der Hauptstadtklub aber konnte seinen besten Mann nur wenige Jahre halten - 1976 holte ihn der damalige Bayern-Präsident Wilhelm Neudecker nach München. Dort blieb er und avancierte mit teilweise sehr unorthodoxen Methoden zum Superstar unter den Ärzten.
Salben, Bücher, Praxen
Im Laufe der Jahre begnügte sich Müller-Wohlfahrt nicht mehr damit, hochbezahlte Fußballerbeine wieder fit zu bekommen. Er produzierte Arzneien (doc-Sportsalbe), schrieb Bücher ("Süße Pille Sport", "Verletzt, was nun?") und betrieb natürlich eine exquisit laufende Praxis in der Fürstenfelder Straße, nahe des Marienplatzes. Während sein Sohn ebenfalls Arzt wurde und ebenfalls zu seinem Bayern-München-Team gehörte, vergnügte sich seine Tochter Maren ausgerechnet mit Lothar Matthäus, der nach Aussage von Vereinspatron Hoeneß nicht mal mehr Greenkeeper beim FC Bayern werden würde. So viel Glanz zog natürlich Neider an: "Müller-Wohlfahrt schwebt jetzt in Sphären, wo er nur darauf aus ist, als bester Mediziner in Deutschland zu erscheinen", ätzte mal Achim Büscher, ein anderer ehemaliger Vereinsarzt von Borussia Dortmund.
Seine Fans aber haben dann doch die bekannteren Namen: Joachim Löw, Nationaltrainer, gehört dazu und der frühere Bayern-Coach Jupp Heynckes: "Er ist ein Phänomen als Arzt und als Mensch. Er ist Tag und Nacht für uns da. Er übt seinen Beruf mit einer Leidenschaft aus, das ist keine Arbeit für ihn", sagte Heynckes einmal über den Arzt, der bei Bayern-Spielen zum festen Inventar auf der Bank gehörte und dabei vor allem wegen seiner halblangen Haaren auffiel.
Dank Hopp zur Megapraxis
Vor einigen Jahren aber mutete sich Müller-Wohlfahrt dann vielleicht doch zu viel zu: Er wolle "eine der modernsten medizinischen Einrichtungen Europas" gründen, sagte er 2008 vollmundig. Neben Orthopäden sollen dort auch Radiologen, Internisten und Physiotherapeuten mitarbeiten. Weil solche Pläne sehr viel Geld kosten, holte er sich ein paar Financiers an Bord. Unter anderem SAP-Eigentümer und Hoffenheims Fußballmäzen Dietmar Hopp sowie Franz Beckenbauer.
Schon der Anfang stand unter keinem guten Stern: Am Ort seiner Megapraxis residierte bereits ein Kompetenzzentrum für Herz- und Kreislauferkrankungen. Man bekämpfte sich erst mit einstweiligen Verfügung vor Gericht, einigte sich aber am Ende. Vor zwei Jahren wurde bekannt, dass Müller-Wohlfahrts Firmenimperium, zu dem mittlerweile 17 Unternehmen gehören, finanziell in der Klemme stecken soll. Von Überschuldung war die Rede, von horrenden Verlusten. Seine Kassenarztpraxis musste er wohl aufgeben, weil seine Behandlungen zu aufwändig geworden waren.
"Ja, ich sehe mit den Fingern", hatte der Wunderarzt einmal über sich gesagt. Eine Fähigkeit, "erworben durch tägliches Üben, Üben, Üben. Wie ein Pianist oder ein Violinist." Ans Aufhören hatte Müller-Wohlfahrt trotz seines fortgeschrittenen Alters eigentlich nie gedacht. Seine Welt seien die vier Wände seines Behandlungszimmers. Seine Arbeit sein Hobby, "sein Beruf eine Gnade". Unzählige Meisterschaften hat er mit seinen Bayern gefeiert, Pokalsiege und den Gewinn der Champions League. Beim Bankett für die nächsten Titel im Mai wird er fehlen.