Auswanderung Die Besten hauen ab

Amerika kauft die Spitzenforscher der Welt - auch in Deutschland. Fast 80 000 sind dem Ruf bereits gefolgt. Ein gefährlicher Aderlass für Wissenschaft und Wirtschaft.

Falls es eines Tages gelingt, Krankheiten wie Krebs, Aids oder Hepatitis zu besiegen, dann vielleicht auch dank Thomas Tuschl: Am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen entdeckte der 37-Jährige einen Weg, gezielt einzelne Gene abzuschalten - eine medizinische Sensation, die in Fachkreisen erst auf Skepsis stieß und bald auf weltweiten Applaus. Schon jetzt wird Tuschl als Anwärter auf einen Nobelpreis gehandelt.

Aufsehen erregte auch Jörg Gerlach. An der Charité entwickelte der 42-jährige Berliner wegweisende Therapien zur Erneuerung von Zellen. Leberpatienten etwa können mit Hilfe der von ihm entwickelten "Bioreaktoren" so lange entlastet werden, bis ein Spenderorgan gefunden ist oder sich die Leber wieder erholt hat.

Einen riesigen Schritt voran brachte der Physiker Andreas Heinrich die Wissenschaft auf kleinstem Raum: Er konstruierte ein Rastertunnelmikroskop, mit dem Atome nicht nur beobachtet, sondern auch neu ausgerichtet werden können. Von Berlin bis Tokio erklärt der 34-Jährige nun vor Fachpublikum, wie seine Erfindung helfen könnte, Computer auf die Größe eines Staubkorns zu schrumpfen.

USA locken Forscher mit millionenschweren Übernahmeangeboten

Drei hochtalentierte Nachwuchswissenschaftler, drei Beispiele für Spitzenleistungen deutscher Forscher - doch keiner der drei lebt und arbeitet noch hier: Thomas Tuschl zog es vor gut einem Jahr nach New York; die Rockefeller University machte ihm ein millionenschweres Übernahmeangebot, das zu gut war, um es auszuschlagen. Andreas Heinrich entwickelte sein Mikroskop im Silicon Valley für die Computerfirma IBM. Jörg Gerlach wechselte nach seinem Erfolg zum McGowan Institute nach Pittsburgh, und nur weil er seine Arbeit an der Charité nicht ganz aufgeben wollte, ist er Berlin zumindest zum Teil erhalten geblieben.

Die drei Forscherstars in der Fremde stehen für ein dramatisches Problem, das Deutschland plagt und passenderweise einen englischen Namen trägt: "Brain Drain" - die Abwanderung hochbegabter junger Wissenschaftler ins Ausland, vorzugsweise in die USA, wo sie bessere Arbeits- und Karrierechancen sehen.

Laut einem Bericht der Europäischen Kommission arbeiten allein 70 000 Deutsche, die Naturwissenschaften oder Technik studiert haben, in den USA. Hinzu kommt die Elite: rund 7200 junge Männer und Frauen mit Doktortitel und dem Potenzial, herausragende Forscher zu werden. Deutschland subventioniere so "indirekt, aber nicht unerheblich" die USA, sagt Forschungsministerin Bulmahn.

EU-Politiker schlagen Alarm

Auch in Brüssel schlagen Politiker Alarm. Philippe Bousquin, EU-Kommissar für Forschung, spricht von "Europas verlorenen Söhnen und Töchtern" und meint damit die 400 000 Forscher, die in die USA gegangen sind. Was ihn besonders beunruhigt: Sagte früher jeder Zweite, er wolle eines Tages wieder zurück in die Heimat, ist es heute nur noch jeder Vierte.

Wenn es ums Geld geht, hat Amerika es besser: Im Jahr 2000 gaben die USA 287 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung aus - 121 Milliarden mehr als die EU-Staaten. Der Abstand hat sich seit 1994 verdoppelt. Die Europäer versuchen verzweifelt aufzuholen. 2002 beschlossen sie, ihre Forschungsgelder massiv zu erhöhen - von durchschnittlich 1,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf drei Prozent - und 700 000 neue Forscherstellen zu schaffen. Der ehrgeizige Plan erweist sich zwei Jahre später als Luftnummer: Die EU-Kommission gesteht, Europa sei - außer in Schweden und Finnland - "weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen".

Also ächzen die europäischen Unis weiter unter der Last, immer mehr Studenten mit immer weniger Geld ausbilden zu müssen, während die amerikanischen Hochschulen obendrein von der Sitte profitieren, dass Firmen und reiche Privatleute - oft Ehemalige - ihnen Abermillionen an Spenden zustecken.

Wen wundert es da, dass der deutsche Akademikernachwuchs lieber in Amerika bleibt? Selbst wenn er unter Heimweh leidet: "Ich vermisse die Familie, die Freunde, das Essen", klagt Ines Mergel, Wirtschaftswissenschaftlerin in Harvard. Aber eine Rückkehr ist für die Hannoveranerin nicht vorstellbar. "Hier in Amerika wird man sofort Assistenzprofessor", sagt sie. "Es gibt unendlich viele Stellen. In Deutschland sehe ich für mich derzeit keine Perspektive."

Natürlich gibt es Nachteile: Man ist weit weg von daheim und kommt selten dazu, die Familie zu besuchen. Denn wer in der Wirtschaft arbeitet, beginnt mit zehn Tagen Urlaub im Jahr.

Um Sponsoren müssen sich die Forscher selbst kümmern

Und dann ist da die Sache mit dem Geld, denn die Freiheit hat ihren Preis. "Man muss alles selber finanzieren und 'ne Menge arbeiten, um das Geld fließen zu lassen", sagt Sebastian Thrun. Der 36-Jährige ist Roboter-Experte und leitet das Institut für künstliche Intelligenz an der kalifornischen Stanford University. "Ich bekomme keine direkten Mittel von der Uni." Man sieht ihm an, dass er nur drei Stunden geschlafen hat - ein Antrag auf Förderung durch die "Darpa", den Forschungsarm des US-Verteidigungsministeriums, musste in der Nacht noch fertig werden, 14 Minuten vor Abgabeschluss. Es geht um sieben Millionen Dollar, das würde reichen, Thruns Arbeit vier Jahre lang zu finanzieren. Er hat zum Beispiel einen Modellhubschrauber konstruiert, der automatisch das Gelände erfasst und kartografiert, das er überfliegt. So etwas sollte die Darpa eigentlich interessieren.

Wenn nicht, hat Thrun ein Problem - allerdings kein existenzielles, denn er ist Professor auf Lebenszeit. Das war Teil des Deals, mit dem Stanford ihn von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh abwarb. Nun soll er Stanford in der künstlichen Intelligenz größeres Renommee verschaffen. Da ist die Edel-Uni bisher eher schwach, und das darf nicht sein, denn Stanford lebt von seinem Ruf. "Wir arbeiten quasi als Firma, nicht als Bildungsinstitution", sagt Thrun. "Die Studenten kaufen für viel Geld ein Produkt - Erziehung -, darum haben sie auch das Recht, das Produkt einzufordern."

Arbeiten in Deutschland ist bequemer

Es wäre bequemer, in Deutschland Professor zu sein, ohne den Druck, Resultate zu liefern, Fördergeld zu beschaffen und Studenten zu bedienen - aber dafür müsste Thrun viel mehr Arbeit investieren, um talentierte Mitarbeiter zu finden. "Hier wollen die Besten der Welt hinkommen, und sie zahlen noch dafür", sagt er. "Das System der Elite-Uni hilft einem da enorm."

Nichts könnte Thrun derzeit zurücklocken, aber viele andere überlegen durchaus. Mehrere Initiativen versuchen, Rückkehrwilligen attraktive Angebote zu vermitteln. Eine ist "GAIN", das "German Academics International Network" von DAAD, Humboldt-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, eine andere die "German Scholars Organization" (GSO). Zusammen mit deutschen Firmen will die GSO ein Netzwerk unter deutschen Forschern in den USA aufbauen und im Internet eine Job-Börse einrichten. "Wir müssen uns bewusst machen, dass es ein weltweiter Konkurrenzkampf um Spitzenkräfte ist", fordert Eicke Weber, Professor in Berkeley und einer der Gründer der GSO. Da schlafe Deutschland bisher: "Es ist die crème de la crème, die hierher kommt, und wir lassen sie allein!"

Deutsche Personaler versuchen Absolventen amerikanischer Elite-Unis abzuwerben

Viele Unternehmen haben das Problem inzwischen erkannt: Auf Job-Messen wie der "European Career Fair" in Boston versuchen die Personaler von Lufthansa, Deutsche Bank, Roche, Bosch, Infineon, Siemens, Shell und Continental Absolventen der Elite-Universitäten Harvard und MIT abzuwerben. Schon früh am Morgen füllt sich die Halle auf dem Campus des Massachusetts Institute of Technology, Hunderte deutsche Chemiker und Mediziner, Politologen und Ingenieure aus Harvard und Yale, aus Princeton und Dartmouth führen kurze Gespräche an den Firmenständen, hören sich die Angebote an, doch nur wenige verabreden sich zum Job-Interview am nächsten Tag.

Will Deutschland eine Chance haben, seine schlauen Köpfe aus den USA zurück- zuholen, braucht es nicht nur attraktive Job-Angebote; vor allem müssen die heiligen Kühe des Wissenschaftsbetriebs geschlachtet werden - zum Beispiel die zeitraubende Prozedur der Habilitation. "Das System gehört abgeschafft", fordert der junge Physiker und IBM-Forscher Andreas Heinrich. "Falls irgendeine Uni mich will, muss sie mich ohne Habilitation nehmen." Das Einzige, was ihn aus seinem Traumlabor im Silicon Valley herauslocken könnte, wäre eine Position an einem Max-Planck-Institut. "Max Planck, das wäre was", sagt Heinrich und hält kurz inne, so wie ein Gourmet, der eine besondere Köstlichkeit genießt. "Die beste Stelle für Physik auf der Welt, das ist Max-Planck-Direktor. Der hat relativ viel Geld und viele Mitarbeiter, auch langfristige, das ist ein großer Vorteil in Deutschland. Wenn die mich ansprechen würden, dann müsste IBM sich schon ganz schön anstrengen", sagt der Physiker.

Sein Boss, der Amerikaner Don Eigler, nickt. Eine Max-Planck-Stelle würde ihm selbst gut gefallen. Aber was seinen Schützling angeht - da soll bitte keiner auf dumme Gedanken kommen: "Andreas kriegt ihr nicht zurück!", ruft er halb im Scherz. "Die guten Leute behalten wir hier!"

Karsten Lemm, Michael Streck, Jan ChristophWiechmann

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Mitarbeit: Doris Schneyink

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