US-Bankenkrise Lehman - das war's

Von M. Ruch, S. Bräuer und A. Dörner, New York
Was für ein Drama! Zwei große Investmentbanken sind innerhalb weniger Stunden verschwunden. Die Banker von Lehman Brothers in New York, London und Frankfurt erleben den schlimmsten Tag ihrer Karriere. Szenen eines Untergangs.

Der Montag danach, früh am Morgen, Schlag sechs. Der Wind faucht um die Ecken im Bankenviertel, durch die Wall Street hindurch zum Hudson River hin. Nachdem Hurrican "Ike" am Wochenende in Texas gewütet hat, schickt er nun ein paar Grüße nach New York. Durch die Bankenhäuser aber, bis ins letzte Büro hinein, bläst an diesem Morgen ein ganz anderer Sturm. Die Finanzkrise ist wie nie zuvor über das Bankenzentrum der Welt hineingebrochen.

Was war das für ein Wochenende: Der einst weltgrößte Versicherer AIG taumelt, die Investmentbank Merrill Lynch wird per Notverkauf gerettet, und dann: Lehman Brothers. Das Traditionshaus schlittert in die Pleite, 158 Jahre Geschichte gehen in einer Nacht im September zu Ende. An diesem Tag schweigen die Optimisten, und der Sarkasmus der Finanzwelt verstummt. Auf einen Schlag gibt nur noch zwei große US-Investmentbanken: Goldman Sachs und Morgan Stanley. Vor dem Wochenende waren es vier. Versteinerte Gesichter, nervöse Menschentrauben, neue Superlative. Die Wall Street im Schockzustand. "Meine Güte", sagt der Mitgründer von Blackstone, Peter Peterson. "Ich bin seit 35 Jahren in der Branche. Dies ist das Extremste, was ich je erlebt habe."

Seit Freitag hat sich die Lage zugespitzt. Timothy Geithner, Chef der New Yorker Notenbank Fed, trommelt alles zusammen, was in Amerikas Finanzwelt etwas zu sagen hat. Im Fed-Gebäude, drei Straßenblocks von der Wall Street entfernt, haben die Bankenchefs und US-Finanzminister Henry Paulson vor allem ein Thema: Wer kann Lehman retten? Was als Krisentreffen begonnen hat, wird zu einem Krisenmarathon. Der Samstag bringt nicht mehr als einen Stau vor dem Gebäude, weil die Chauffeure die Straßen blockieren. Am Sonntag wird die Lage endgültig dramatisch: Ein Retter nach dem anderen springt ab.

Lehman-Mitarbeiter in aller Welt sind fassungslos: "Sonntagmorgen bin ich um 10 Uhr aus dem Haus", berichtet ein hochrangiger deutscher Mitarbeiter, "und habe meiner Frau gesagt: 'Schatz, heute wird es später. Entweder komme ich als Angestellter von Bank of America oder Barclays zurück.'" Das waren die Optionen bis vor wenigen Tagen. Keine wurde wahr. "An eine Insolvenz habe ich nie im Leben gedacht" , sagt der Banker. "Heute morgen haben wir uns gefühlt wie eine geschlagene Armee. Man kommt ins Büro, und alles ist vorbei."

In London das gleiche Drama, die gleichen Szenen. Mitarbeiter, die am späten Morgen zu einem Meeting gehen. "That's it", sagt ein Banker, als er herauskommt. Beim Treffen wurde allen mitgeteilt, dass sie ihre Sachen packen können. "Wir sind alle rausgeflogen", sagt er knapp. "Das ist der worst, worst, worst case. Ich muss jetzt mal eine Nacht darüber schlafen." Sie alle haben noch gehofft am Wochenende, auf eine Rettung - so wie Merrill Lynch gerettet wurde. "Als sich die Bank of America für Merrill entschied, war klar, dass wir uns nun einsargen können", sagt der Banker.

Fast alle Mitarbeiter packen

Auf den Fluren, berichtet er, stehen überall Kartons, fast alle packen. "Mein Gott", entfährt es ihm, "allein die Angestellten haben 17 Mrd. $ verloren. Die haben alles verloren. Ich bin froh, wenn ich diesen Monat mein Gehalt bekomme. Die meisten verdienen den Großteil über Boni." Am Nachmittag können bereits einige keine Nachrichten mehr vom Blackberry verschicken.

Die New Yorker Firmenzentrale am Times Square ereilt der Schock bereits am Sonntag. Mit versteinerten Gesichtern kommen die Mitarbeiter zu dem Glasbau, gehen vorbei am Sternenbanner, der US-Flagge, die am Empfang schlaff herunterhängt. Draußen warten in zwei langen Reihen Limousinen mit dunklen Scheiben. Nach und nach tragen Mitarbeiter ihre Sachen raus. Erst tröpfchenweise, schließlich sind es Hunderte, sie ziehen Trolleys hinter sich her, schleppen Kisten und Baumwolltaschen mit Baseballschlägern, Blumen und gerahmten Bildern.

Kaum sind sie durch die Glastür auf die Straße getreten, ergreifen sie die Flucht vor den Journalisten, rennen weg vor den Touristen, die mit Digitalkameras knipsen. Viele tragen Sonnenbrillen, obwohl es bewölkt ist. Ein Straßenmusiker spielt "My Heart Will Go On".

Das gleiche Bild am Montag. Seit dem frühen Morgen ist die Firmenzentrale abgeschottet. Vier bullige Männer haben sich bereits vor Sonnenaufgang am Haupteingang aufgebaut. Grimmig kontrollieren sie die Ausweise der Mitarbeiter, die wieder zu Hunderten ins Gebäude strömen.

Viele haben Koffer und Sporttaschen dabei - niemand weiß an diesem Morgen, ob er dieses Gebäude noch betreten wird. Diesen Prachtbau, den Lehman erst 2002 bezogen hat, mit großen Zielen, die selbst an Tag eins der Pleite noch mit etagenhohen Werbefilmen gefeiert werden: "Delivering our Firm to Clients Worldwide" prangt auf der Glasfassade. Auf dem Gebäude gegenüber läuft der Nachrichtenticker: "Lehman stürzt Wall Street in die Krise." In der Eingangshalle stehen Vitrinen mit Trophäen aus der glorreichen Vergangenheit: "Lehman finanziert ersten Non-Stop-Atlantik-Flug von Pan Am", berichtet ein Artikel aus dem Jahr 1927. Daneben Urkunden und Fotos, Bücher und Pokale von Erfolgen früherer Jahre. Bald werden sie in Archiven verschwinden oder im Museum.

Die Finanzwelt überschlägt sich mit Kommentaren. "Es ist ein wenig wie Hurrikan Ike", sagt Analyst Joseph Battipaglia. "Du weißt, dass er dich treffen wird, aber du weiß nicht, wo und wie hart."

Sean Egean von der Ratingagentur Egan Jones befürchtet "das absolute Ende der Wall Street, wie wir sie kennen". Investmentveteran Michael Holland schimpft: "Jetzt rächen sich jahrelange Dummheiten an den Finanzmärkten. Sie sind gerade dabei, zu verdampfen."

Müde Banker mit gespannten Mienen

Selten war die Stimmung auf dem Börsenparkett so niedergeschlagen wie am Montagmorgen. Müde und gespannte Gesichter überall, die Lehman-Trader erkennt man an ihren grünen Jacken. Sie sind zur Arbeit gekommen, aber sie arbeiten nicht wirklich. Viele stehen draußen, vor der Börse, diskutieren, rauchen, holen regelmäßig ihre Blackberrys aus der Tasche und checken nervös ihre Mails. Schauen, ob jene seit Tagen befürchtete Nachricht schon da ist, in der steht, dass sie gehen müssen. Kaum einer der anderen Händler spricht mit ihnen an diesem Tag - als hätten sie eine ansteckende Krankheit.

Beim Handelsstart richten sich alle Blicke auf die American International Group. "AIG ist eindeutig die größte Gefahr für die Finanzwelt", sagt ein Händler. Die Aktie rauscht zu Beginn 40 Prozent nach unten. "Das ist wirklich beängstigend", sagt ein Händler, der seit zwölf Jahren an der New York Stock Exchange arbeitet. Viele Händler stehen in kleinen Gruppen zusammen. Die Jungen suchen den Rat der Alten, doch auch sie sind ratlos. Es geht jetzt darum, die eigene Haut zu retten.

Mit den Journalisten sprechen sie ungern. "Mein Boss hat mir gesagt, wenn er mich im Fernsehen sieht, bin ich gefeuert", sagt ein Händler im pinkfarbenen Hemd und eilt weiter. Zu groß ist die Angst, dass sie die Nächsten sein könnten. "Noch fühle ich mich relativ sicher", sagt einer, "aber wer weiß das schon in Zeiten wie diesen. Vier meiner Freunde haben ihren Job verloren. Die arbeiteten alle für Lehman Brothers."

Dort schimmert spät am Tag dann doch ein verzweifelter Optimismus durch. "Irgendwie geht es schon weiter", sagt einer, "das ist doch hier nicht der 11. September." Unter den Mitarbeitern kursieren seit Tagen E-Mails, die aufheitern sollen: Das Pappschild eines Coffee-Shops, der Reportern keinen Kaffee mehr verkauft, weil sie Lehman in die Pleite geschrieben hätten; den Brief eines Managers, der seine Leute beschwört, wieder aufzustehen wie einst der Footballspieler Ronnie Lott, der mit zerschmettertem Finger die 49ers zu einem legendären Sieg führte. In den Topetagen loten die Chefs derweil aus, wie es nun unter Gläubigerschutz weiter geht.

Wo gibt's einen neuen Job?

Tausende werden ihren Job verlieren, Zehntausende, wenn man einrechnet, was Merrill Lynch bevorsteht - und was andere Banken wohl noch erleiden werden. Was kommt als nächstes? Wer geht noch in die Knie? Wo ist der Boden? - das sind die Fragen der Stunde. Und für die Banker: Wo bekomme ich einen neuen Job?

"Ich werde mich jetzt an Headhunter wenden", sagt ein Investmentbanker in London. "Das, was alle machen. Der Markt ist allerdings völlig überflutet."

FTD