Hochspannungsleitung beschädigt "Dass Brennelemente schmelzen, ist weniger wahrscheinlich" – Experten schätzen Lage in Tschernobyl ein

Atomkraftwerkskomplex Tschernobyl
Der Atomkraftwerkskomplex Tschernobyl mit der markanten Beton-Schutzhülle um den 1986 havarierten Reaktor. Die Aufnahme ist aus dem Jahr 2019.
© Brendan Hoffman / Getty Images
Droht ein neuer Nuklearunfall? Neue beunruhigende Nachrichten vom 1986 havarierten Kernkraftwerk Tschernobyl im Norden der Ukraine lösen Beunruhigung aus. Experten geben vorsichtig Entwarnung.

Die Meldung ließ aufhorchen und das Schlimmste befürchten: Der ukrainische Energiekonzern Ukrenergo hat an diesem Mittwoch mitgeteilt, dass die Stromversorgung zum 1986 havarierten Atomkraftwerk Tschernobyl infolge "der militärischen Aktivitäten des russischen Besatzers komplett gekappt" worden sei. Auch gebe es wegen der Kriegshandlungen keine Möglichkeit, die 750-Kilovolt-Hochspannungsleitung zwischen der Hauptstadt Kiew und dem rund 100 Kilometer nördlich gelegenen Kraftwerk wiederherzustellen.

Unter anderem seien die Kühlsysteme für abgebrannte Brennelemente von einem Ausfall bedroht, ergänzte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba Nachrichtenagenturen zufolge. Vorgehaltene Dieselgeneratoren können demnach nur für etwa 48 Stunden Strom erzeugen.

Wie gefährlich ist die Lage am Kraftwerk Tschernobyl?

Droht nun ein weiterer schwerwiegender Störfall an dem Unglücksreaktor, möglicherweise mit Folgen für weite Teile Europas? Nach Ansicht von Experten zumindest zunächst einmal nicht. Das ist die gute Nachricht.

Die internationale Atomenergiebehörde IAEA verwies in einem Statement darauf, dass rund 20.000 Brennelemente in einem Wasserbecken gelagert werden. "Die thermische Belastung des Beckens und das Volumen des Kühlwassers (reichen) aus, um eine effektive Wärmeabfuhr ohne Elektrizität zu gewährleisten." Im Klartext: Das Wasser kühlt die Brennelemente nach Ansicht der IAEA ausreichend, ohne dass dafür Strom benötigt wird.

Diese Einschätzung zur Lage in Tschernobyl teilt auch die gemeinnützige Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln. Ihr Sprecher Sven Dokter sagte dem stern: "Der letzte Reaktor dort wurde im Jahr 2000 abgeschaltet. Nach so langer Zeit muss auf der Anlage nichts mehr aktiv gekühlt werden."

"Die Elemente klingen dort also seit mindestens 22 Jahren ab und werden deswegen nun keine problematische Hitzeentwicklung mehr zeigen", sagte auch Georg Steinhauser, Professor für Umweltradioaktivität an der Uni Hannover, dem Science Media Center. "Ich denke deshalb, diese Lager könnten eine gewisse Zeit lang auch ohne Strom standhalten."

"Dass die Brennelemente schmelzen, ist weniger wahrscheinlich", erklärte Wolfgang Raskop vom Karlsruher Institut für Technologie. Er schränkte aber ein: Letztlich müssten dies Experten klären.

Wissenschaftler sind also vorsichtig optimistisch, dass von der gekappten Stromleitung keine unmittelbare Gefahr ausgeht. Sorgen bereitet das Kernkraftwerk Tschernobyl aber dennoch. Das ist die schlechte Nachricht. Bereits am Dienstag warnte die IAEA vor einer Verschlechterung der Lage dort. Das mehr als 200 Personen zählende Technik- und Sicherheitsteam vor Ort ist demnach seit fast zwei Wochen ununterbrochen im Dienst, weil unter russischer Kontrolle kein Schichtwechsel durchgeführt worden sei. "Ich bin zutiefst besorgt über die schwierige und stressige Situation, in der sich das Personal des Kernkraftwerks Tschernobyl befindet, und über die potenziellen Risiken, die dies für die nukleare Sicherheit mit sich bringt", erklärte IAEA-Chef Rafael Grossi.

"Ich glaube, wir können uns gar nicht vorstellen, wie die Belastung für die Menschen vor Ort durch den Stromausfall zusätzlich noch ist. Zusätzlich zu der 'Geiselhaft', in der die Belegschaft seit der Eroberung durch die russischen Streitkräfte ist. Zusätzlich zu den zwölf Tagen Dauereinsatz seitdem", sagte auch Umweltradioaktivitäts-Professor Steinhauser. "Jetzt fällt der Strom auch in den einfachen Unterkünften aus, es gibt somit keine Heizung und kein Warmwasser mehr. Die Belastung für die Belegschaft ist wirklich nur schwer auszumalen."

IAEA: Ukraine und Russland sollen Garantien abgeben

Endgültige Entwarnung für Gefahren durch ukrainische Atommeiler wie Tschernobyl gibt es aber nicht – erst recht nicht, solange der Krieg noch andauert. Fast täglich gibt es Zwischenfällen an den Nuklearanlagen im Land. Im Kernkraftwerk  Saporischschja brannte beispielsweise in den vergangenen Tagen laut ukrainischen Angaben ein Ausbildungsgebäude unweit eines Reaktors, nachdem es beschossen wurde. Die IAEA drängt seit Tagen auf rasche Verhandlungen mit ukrainischen und russischen Vertretern, um Garantien für die Atomanlagen auszuarbeiten und schwerere Unfälle zu vermeiden. 

Die Ukraine bezieht rund die Hälfte ihres Strombedarfs aus 15 Kernkraftwerken. Die Anlage in Tschernobyl wird seit dem Jahr 2000 nicht mehr zur Energieerzeugung genutzt. 1986 ereignete sich die schwerste Nuklearkatastrophe der Geschichte. Der Reaktor des Blocks 4 war im Zuge eines Versuchs explodiert. Große Mengen an Radioaktivität wurden freigesetzt und verseuchten etliche Landstriche, vor allem in der Ukraine und dem heutigen Belarus. Wie viele Menschen durch die Folgen des Unglücks starben, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Schätzungen gehen in die Zehntausende.

Quellen: Ukrenergo bei TelegramIAEA bei Twitter, Science Media Center, Nachrichtenagenturen AFP und DPA

Mitarbeit: Helmut Broeg

PRODUKTE & TIPPS