Egon Krenz Die "verfolgte Unschuld"

Er war wegen Totschlags an Grenzflüchtlingen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Zweieinhalb Jahre vor ihrem Ablauf ist Egon Krenz, der letzte DDR-Staats- und Parteichef, ein freier Mann. Begründung: Es bestehe keine Wiederholungsgefahr.

Ganze 49 Tage war Egon Krenz Staats- und Parteichef der DDR. Krenz wurde am Donnerstag als letzter Politiker des untergegangenen zweiten deutschen Staates aus der Haft entlassen. Ungleich länger als sieben Wochen dauerte Krenz' Präsenz in Gerichtssälen und Gefängniszellen: Seine sechseinhalbjährige Haftstrafe musste er zu fast zwei Dritteln absitzen. Krenz geißelte die Prozesse gegen ihn als "Siegerjustiz" und "Kalten Krieg im Gerichtssaal". Dass er sich als verfolgte Unschuld fühlte, spricht nicht für seine Lernfähigkeit.

Schon am 6. Dezember 1989 trat Krenz, der Mitte Oktober Erich Honecker im Amt gefolgt war, gemeinsam mit dem gesamten Politbüro zurück. Der SED-Bilderbuchfunktionär war ein denkbar ungeeigneter Kandidat für ein Land im demokratischen Aufbruch. Demonstranten forderten denn auch auf Transparenten "Unbekrenzte Freiheit". Nur zu gut war der DDR-Bevölkerung seine kaltblütige Verteidigung der Niederschlagung der Pekinger Studentenproteste in Erinnerung. Im Januar 1990 wurde Krenz aus der SED ausgeschlossen.

"Öffnen der Grenzen oder Gewalt?"

Bereits im April 1990 veröffentlichte der ehemalige Staatschef seine Memoiren "Wenn Mauern fallen". Darin rechnete er sich als Verdienst an, den Fall der Berliner Mauer beschleunigt zu haben. Stasi-Chef Erich Mielke soll ihm am 9. November 1989 telefonisch von "großen Menschenansammlungen" an der Berliner Mauer berichtet haben. Er habe Krenz "die schicksalhafte Frage" gestellt: "Öffnen der Grenzen oder Gewalt?" Er habe sich gegen Gewalt entschieden und ein Schießverbot für den Fall angeordnet, dass Demonstranten ins Grenzgebiet eindringen sollten. Diese Version der Geschichte brachte Krenz den Ruf als Opportunist und "Wendehals" ein.

Denn seine DDR-Politlaufbahn konnte mit Recht als vorbildlich gelten. Schon als 16-Jähriger trat der 1937 im heute polnischen Kolberg Geborene der SED-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) bei. Dort machte er rasch Karriere und wurde 1974 ihr Erster Sekretär. Dies wurde als Zeichen des besonderen Vertrauens von SED-Chef Honecker gewertet, der die Jugendorganisation gegründet hatte. Fortan galt Krenz als designierter Nachfolger.

Mauerschüsse und Wahlbetrug

Nach der Wiedervereinigung 1990 musste der arbeitslose Krenz als Zeuge in diversen Gerichtsprozessen gegen frühere DDR-Politfunktionäre aussagen. Er bestritt, von Manipulationen der stets sensationell guten SED-Wahlergebnisse gewusst zu haben. Seit 1993 ermittelte die bundesdeutsche Justiz auch gegen ihn wegen des Verdachtes auf Wahlfälschung und im Zusammenhang mit den Todesschüssen an der innerdeutschen Grenze.

Im Juli 1995 erhob die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage "wegen Totschlags und Mitverantwortung für das Grenz-Regime der DDR". Der Prozess dauerte mehr als zwei Jahre. Im August 1997 verurteilte ihn die Große Strafkammer im Landgericht Berlin wegen Totschlags in vier Fällen zu sechseinhalb Jahren Haftstrafe. Vor Gericht hatte der ehemalige SED-Spitzenkader zwar die Todesfälle an der deutsch-deutschen Grenze bedauerte, eine Verantwortung jedoch abgelehnt. Nach nur 18 Tagen kam Krenz auf Grundlage einer Haftbeschwerde im September 1997 wieder frei.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Danach mussten sich höhere Gerichte mit dem Fall Krenz befassen: Der Bundesgerichtshof bestätigte 1999 die Haftstrafe, das Bundesverfassungsgericht lehnte im Januar 2000 eine Verfassungsbeschwerde von Krenz gegen das Urteil ab. Am 13. Januar 2000 musste der langjährige SED-Politiker schließlich seine Strafe in der Justizvollzugsanstalt in Berlin-Hakenfelde antreten. Auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte scheiterte Krenz mit einer Revision des Urteils. Im Februar 2000 kam er in den offenen Vollzug.

Hilfe für Hollywood

Als Freigänger fand er Arbeit in der freien Wirtschaft. Doch auch als Berater für Hollywood war der 66-Jährige während seiner Haftzeit tätig. Im Januar 2003 traf er Filmstar Tom Hanks, der sich in Berlin auf eine neue Rolle vorbereitete. Hanks sollte bei der Verfilmung des Lebens von US-Sänger Dean Reed die Hauptrolle spielen. Reed war 1972 in die DDR übergesiedelt und dort 1986 unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Krenz soll ein enger Freund Reeds gewesen sein.

Chronologie: Krenz, die DDR und die Gerichte

Der am 19. März 1937 im pommerschen Kolberg geborene Egon Krenz hatte in der DDR eine steile Karriere und avancierte über den Vorsitz im SED-nahen Jugendverband FDJ zum Kronprinzen von DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker. Nach dem Sturz Honeckers im Wendeherbst 1989 konnte sich Krenz jedoch nur kurz im höchsten Staats- und Parteiamt halten. Eine Dokumentation einiger wichtiger Daten aus dem Leben von Krenz nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989.

3. Dezember 1989

Auf Druck der SED-Basis treten das gesamte Zentralkomitee der SED und das Politbüro mit Krenz als Generalsekretär ab.

6. Dezember 1989

Krenz muss sein Amt als Vorsitzender des Staatsrates aufgeben. Im Januar 1990 - Die SED-Nachfolgepartei PDS schließt ihn aus ihren Reihen aus.

13. November 1995

Der zweite Politbüro-Prozess beginnt vor dem Berliner Landgericht - neben Krenz müssen sich noch fünf weitere hochrangige Funktionäre verantworten. Der Prozess platzt wegen Erkrankung des mitangeklagten SED-Wirtschaftsfachmanns Günther Kleiber. Der Prozess beginnt neu am 15. Januar 1996.

17. April 1997

Der Anklagevorwurf wird reduziert: Krenz muss sich nur noch für vier Fälle des Totschlags an DDR-Flüchtlingen verantworten.

31. Juli 1997

Die Staatsanwaltschaft fordert für Krenz elf Jahre Haft. Die Verteidigung fordert Freispruch.

18. August 1997

In seinem Schlusswort bekräftigt Krenz den Vorwurf der «Siegerjustiz».

25. August 1997

Das Berliner Landgericht verurteilt Krenz zu sechseinhalb Jahren Haft wegen Totschlags in vier Fällen.

12. Januar 2000

Das Bundesverfassungsgericht lehnt die Verfassungsbeschwerde von Krenz ab.

13. Januar 2000

Krenz tritt seine Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Hakenfelde an, wird gut eine Woche später nach Plötzensee (ebenfalls Berlin) verlegt und kommt wenig später in den offenen Vollzug.

7. November 2000

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt über die Klage von Krenz und hört ihn an.

22. März 2001

Die Europa-Richter weisen die Klage von Krenz, zwei weiteren hochrangigen DDR-Funktionären sowie eines Mauerschützen endgültig ab. Das Urteil ist nicht mehr anfechtbar.

13. Oktober 2003

Krenz scheitert mit einem weiteren Antrag auf vorzeitige Haftentlassung. Die Richter lehnen wegen der Schwere der Schuld ab.

18. Dezember 2003

Das Kammergericht setzt die Restfreiheitsstrafe von Krenz zur Bewährung aus.

DPA
Agnes Tandler