Putin macht mobil, während der Westen das Interesse am Ukraine-Krieg zu verlieren scheint. Die Russen verlieren nach wie vor Menschen und Material, doch sie können es ersetzen. Der angesehene Experte, Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer, sagte vor Kurzem auf n-tv dass Putin die Soldaten nicht ausgehen würden, selbst wenn keine Reservisten eingezogen werden. Derzeit gelinge es Russland, genügend Männer auch ohne Zwang zu mobilisieren.
Der britische Geheimdienst schätzt, dass Russland jeden Monat mehr als 100 Kampfpanzer produziert. Diese Einschätzung bestätigt Aussagen von Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu. Damit werden die derzeitigen Verluste kompensiert. Denn den Russen sei es im Vergleich zum ersten Kriegsjahr 2022 gelungen, ihre Verluste an Panzern deutlich zu reduzieren, so die Briten auf X (vormals Twitter). Ihre düstere Schlussfolgerung lautet: Die jüngsten Offensiven hätten den Russen zwar nur geringe Gewinne am Boden eingebracht, aber sie können "dieses Niveau an offensiven Tätigkeiten in der vorhersehbaren Zukunft weiter fortsetzen".
Das russische Verteidigungsministerium berichtet, die Rüstungsfabrik Ural Transmash habe die Produktion an Panzerhaubitzen seit 2022 versechsfacht. Inzwischen geht man im Westen davon aus, dass Russland 2024 mehr als zwei Millionen Artilleriegranaten herstellen wird, doppelt so viel wie zuvor angenommen.
Der Krieg hat Priorität
Das sind nur die Schlagzeilen weniger Tage. Die Zahlen sind erschreckend und sind dabei nicht statisch. Der Putin-Staat lässt in seinen Anstrengungen nicht nach. Die Wirtschaft wird weiter auf Kriegswirtschaft getrimmt. Für Putin ist der Ukrainekrieg eine Frage von Leben und Tod, anders als im Westen stellt sich nicht die Frage, wie sinnvoll so eine Ausrichtung ist oder was man mit den Kapazitäten anfangen soll, wenn der Krieg beendet ist.
In dieser wirtschaftlichen Transformation gibt es zwei Momente. Zuerst die klassische Rüstungsindustrie. In der Putin-Ära wurden diese Firmen zu riesigen Konzernen zusammengefasst. Allesamt unter dem Einfluss des Kremls. Diese "Staatsbetriebe" haben sich als weit leistungs- und anpassungsfähiger erwiesen als im Westen angenommen. Sie fanden Wege, die Sanktionen der Ukraine-Unterstützer zu unterlaufen. In die laufende Produktion wurden die Erfahrungen an der Front integriert. Und die Betriebe konnten die Produktion massiv steigern.
Der Putin-Staat wiederholt hier das Wunder der sowjetischen Rüstung im Zweiten Weltkrieg. Damals war es gelungen, fast die gesamte Schwerindustrie aus den Gebieten zu evakuieren, die von den Deutschen erobert worden waren, und die Fabriken in Sibirien wieder aufzubauen. Diesen Elan hätte niemand der russischen Schwerindustrie von heute zugetraut.
Der Kreml entdeckt die kleinen Firmen
Noch überraschender als die Neuauflage der Stalinzeit ist ein Vorgehen, das sich bei der Drohnenproduktion zeigt. Während der Putin-Ära gewann man den Eindruck, dass sich der Kreml allein auf die Groß- und Schwerindustrie konzentriert, auf Rüstung und Rohstoffe. Für die Leichtindustrie und kleinere Unternehmen fehlte das Verständnis. Vielleicht auch, weil Oligarchen, die riesige Gasfelder kontrollieren, kein Interesse an Kleinunternehmen hatten.
Das hat sich geändert. Dem Kreml gelingt es inzwischen, eine Vielzahl von Firmen, die traditionell nichts mit Rüstung zu tun haben, in die Kriegswirtschaft zu integrieren. Wie etwa die Großbäckerei Tambow. Neben Backwaren werden hier kleine Beka-Drohnen montiert. Bekannt wurde die Bäckerei durch einen Bericht des Staatsfernsehens, für den die Drohnen neben den Broten auf einem Band platziert wurden. Der Beitrag brachte die Brotfabrik auf die US-Sanktionsliste. Um die Front zu unterstützen, hat sich die Bäckerei einen professionellen 3D-Drucker zugelegt, der das Gestell der Drohne fertigt. Die weiteren Bauteile werden online bestellt, fast alles kommt aus dem Ausland. Dann wird die Drohne nur noch zusammengesteckt. Genau genommen könnte man die Endmontage auch in Heimarbeit erledigen. Immerhin 250 Drohnen mit Fernbedienung und Tarnrucksack stellt die Bäckerei laut dem TV-Bericht im Monat her. Sie soll bereits acht Nachahmer in der Umgebung gefunden haben.
Im industriellen Maßstab kann man die Ausweitung der Rüstungsproduktion bei der Herstellung der Lancet-Drohnen sehen. Die Drohne gilt als gefährlichster Panzerkiller in diesem Krieg. Hergestellt wird sie in einem ehemaligen Einkaufszentrum in Ischewsk. Bereits im Februar 2023 teilte das russische Handelsministerium mit, dass mehr als 500 Leichtindustrieunternehmen auf die Herstellung von Militärausrüstung umgestellt hätten. Firmen, die auf Camping spezialisiert waren, nähen nun Armeeschlafsäcke. Ein Hersteller von Eishockeyschlägern stellt kugelsichere Westen her. Der Kreml fördert den Kauf des nötigen Geräts und garantiert auskömmliche Preise.
Parolen der Stalinzeit in moderner Version
Und offenbar verfängt das Putin-Narrativ vom "Großen Vaterländischen Krieg 2.0". Es gibt Kriegsmüdigkeit und entschiedene Kriegsgegner, doch sie dominieren nicht die Stimmung im Land. Alte Frauen, die die Blockade von Leningrad überlebten, sagten dem deutschen TV stolz in die Kamera, dass sie ehrenamtlich die "Jungs" an der Front unterstützen. "Wir erleben einen Einblick in eine gesamtgesellschaftliche, groß angelegte Freiwilligenarbeit in ganz Russland", sagte Samuel Bendett, Experte für autonome Waffen am Center for Naval Analyses, der "Financial Times". Bis in die Details wird die Propaganda der Stalinzeit reaktiviert. Im modernen Gewand aktivieren sie die Reflexe der Vergangenheit. Im TV laufen Appelle, sich freiwillig in den Fabriken einzufinden. Werktätige melden sich zu einer zusätzlichen Schicht in der Woche. Schulkinder lernen, Waffen zusammenzusetzen.
Allerdings läuft nicht alles nach Plan in Putins Reich. Für eine umfassende Luftoffensive gegen die ukrainische Infrastruktur fehlt es in diesem Jahr an Marschflugkörpern und Raketen. Bei Hubschraubern und Kampfflugzeugen kann die Neuproduktion die Verluste nicht auffangen.