Hintergrund: Das bedeutet das Aus von Argo AI Vertrauensverlust

VW autonomes Fahren
VW autonomes Fahren
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VW ist überraschend bei Argo AI ausgestiegen. Wie konnte es so weit kommen und was sind die Konsequenzen? Passen Start-ups und traditionelle Autobauer überhaupt zusammen? Gerät VW jetzt beim autonomen Fahren ins Hintertreffen? Hier gibt es die Antworten auf alle diese Fragen.

Gemunkelt hat man in der amerikanischen Start-up-Szene schon länger. Um Argo AI steht es nicht gut. Die negativen Anzeichen verdichteten sich, als immer wieder Angestellte des Unternehmens bei anderen Software-Firmen anklopften, um nach Jobs zu fragen. Für die breite Öffentlichkeit war ein Scheitern Argo AIs fast undenkbar. Mit zwei solchen Schwergewichten wie VW und Ford im Rücken blickt man doch in eine goldene Zukunft. Sollte man zumindest glauben. Doch jetzt ist es zum großen Knall gekommen. Ford und VW haben die Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Start-up gekündigt.

Für viele kam die Trennung überraschend. Noch im vergangenen Jahr haben der damalige VW-Chef Herbert Diess und sein Argo AI-Pendant Bryan Salesky auf der IAA noch publikumswirksam die innige Technologie-Männerfreundschaft demonstriert. Der blasse, stattliche Amerikaner verkörpert einen Software-Guru, wie er in fast jedem Hollywood- Machwerk porträtiert wird. Vor allem stand Salesky für das von Herbert Diess fast schon gebetsmühlenartig vorgetragene Konzept „Neues Volkswagen“. Offen, progressiv und nicht an alten Zöpfen hängend. So sollte die Zukunft aussehen. Eine Ehe zwischen alter und neuer Welt. Und jetzt? Aus und vorbei.

Übrig bleiben nur ein paar karge Worte im offiziellen Geschäftsbericht des VW-Konzerns für das dritte Quartal. „Darüber hinaus fokussiert Volkswagen seine Entwicklungsaktivitäten für das autonome und hochautomatisierte Fahren. In der Folge wurde das Finanzergebnis im dritten Quartal durch eine nicht zahlungswirksame Wertminderung in Höhe von 1,9 Milliarden. Euro belastet, die aus der Abschreibung seiner Beteiligung an Argo AI resultiert.“ Ford hat in seiner Bilanz 2,7 Milliarden Dollar abgeschrieben. Selbst für automobile Schwergewichte keine „Peanuts“.

Was ist also schiefgelaufen, dass man so schnell die Reißleine zieht? Eine monokausale Erklärung greift zu kurz. Zur Scheidung haben mehrere Faktoren beigetragen. Grundsätzlich sind die Unternehmenskulturen eines Start-ups und eines prozessorientierten traditionellen Automobilbauers nicht gerade kompatibel. Während der Programmierer nachts um zwei die Tiefkühlpizza in den Ofen schiebt, hebt der VW-Betriebsrat bei jeder Überstunde mahnend den Zeigefinger. Argo AI hat nicht eng mit VW und Ford zusammengearbeitet, sondern selbstständig am autonomen Fahren Level 4 getüftelt, mit dem Ziel, eine allumfassende Lösung zu finden, die alles beinhaltet, was man zum Robo-Fahren benötigt, angefangen von der Rechenhardware über die Sensoren bis hin zur Funktionssoftware. „Ein solcher vertikaler Stack, der letztlich alles lösen muss, was man für das autonome Fahren braucht, ist eine Aufgabe, die für eine Firma zu groß ist“, weiß Dr. Jan Becker, CEO von Apex AI, der mit seiner Firma selbst an Software für automobile Anwendungen tüftelt.

Also hat sich Argo AI letztendlich übernommen. Außerdem ist mittlerweile klar geworden, der Sprung zum autonomen Fahren Level 4 deutlich länger braucht, als man zunächst angenommen hat. Zwischenschritte sind nötig, bei denen die Fahrassistenzsysteme aufgerüstet werden. Das passte mit dem Argo-AI-Ansatz nicht zusammen, die offenbar gleich auf den großen Wurf abzielten. Der dauert aber länger als geplant. Vermutlich wird es mit dem autonomen Fahren Level 4 erst gegen Ende der Dekade klappen. Bei solchen Terminplanungen werden die Controller der Großkonzerne nervös, die schnell Ergebnisse sehen wollen, die positiv in die Unternehmens-Bilanz einzahlen.

„Der Hype rund um das autonome Fahren ist aktuell deutlich abgekühlt. Die Entwickler des hochautomatisierten Fahrens mussten erkennen, dass der direkte Weg zu Level 5 schlicht zu komplex ist – und auch das Fahren nach Level 4 deutlich schwieriger ist als angenommen. Statt des großen Sprungs sehen wir eine evolutionäre Entwicklung der Software – und damit auch eine raschere Kommerzialisierung der Entwicklung“, erklärt Peter Fintl, Leiter Technologie und Innovation bei Capgemini. Dazu kommt erschwerend, dass sich die finanzielle Großwetterlage verändert hat. Vor einigen Jahren herrschte Goldgräberstimmung und viele Start-ups sind von Investoren mit Summen bis zu einer Milliarde Dollar versorgt worden. Der Optimismus war groß, doch dann kamen Zäsuren in Form verschiedener Krisen, erst Corona, dann der Ukraine-Konflikt und in Konsequenz eine Finanzkrise. Sprich, das Geld wurde knapp und Argo AI suchte in der Branche händeringend nach Investoren. VW und Ford sagten „No!“

Die Start-up-Branche konsolidiert sich. „Das Kapital versammelt sich um die wenigen großen Player, denen man zutraut, die Mammutaufgabe des autonomen Fahrens zu lösen. Argo AI hat man das nicht zugetraut“; weiß Jan Becker. Zwei der Firmen, die zu diesem Kreis gehören, sind die GM-Tochter Cruise und der Google-Filius Waymo. Selbstredend geben VW und Ford das autonome Fahren nicht auf. Das bisher erreichte geistige Eigentum soll im Konzern bleiben. Deswegen bekommen einige der rund 2.000 Argo AI-Mitarbeiter ein Angebot des deutschen Automobilbauers. „VW hat einen Plan B“, sagt Jan Becker. Bei dem spielt die VW-eigene Softwareschmiede Cariad eine zentrale Rolle. In China soll Cariad die Entwicklung des autonomen Fahrens in China gemeinsam mit Horizon Robotics vorantreiben und im Rest der Welt mit Bosch.

Die Tatsache, dass die ersten Funktionen dieser Kooperation bereits für das nächste Jahr geplant sind, zeigt, dass der Rückzug von Argo AI schon länger geplant war und dass die Erwartungen an das deutsch-deutsche Duo groß sind. Zeit ist ein Faktor. Nach wie vor hält Volkswagen Nutzfahrzeuge an dem Ziel fest, gemeinsam mit Moia 2025 den autonom fahrenden ID. Buzz in Hamburg zur Buchung anzubieten. Das Vorgehen ist nicht ohne Risiko, wenn man bedenkt, dass sich Cariad bisher nicht immer mit Ruhm bekleckert hat. Allerdings werden sich die VW-Manager nicht auf diese Konstellation alleine verlassen. Ein Umdenken hat stattgefunden, wollte man früher alles selbst machen, betonte Cariad-Chef Dirk Hilgenberg unlängst, dass man für Kooperationen offen sei. Der neue VW-Konzernchef Oliver Blume favorisiert offenbar Mobil Eye, sodass die Gemengelage um das autonome Fahren und den Volkswagen-Konzern spannend bleibt.

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