Seit sechs Jahren arbeitet Andre Wolf bei dem österreichischen Verein Mimikama, der Falschmeldungen im Internet bzw. in den sozialen Medien auf den Grund geht. In dieser Zeit hat er eine Menge über deren Herkunft, Ursache und Ziel gelernt und seine Erfahrungen in einem spannenden Buch zusammengetragen, das am 13. März erscheint: "Angriff auf die Demokratie". Darin zeigt er den Missbrauch durch rechtsextremistische Gruppen und Einzelpersonen auf, die ein klares Ziel haben – selbst an die Macht zu kommen. Seit der Corona-Pandemie hat die Hetze stark zugenommen und Wolf befürchtet: Es wird noch schlimmer kommen.
Der 43-Jährige erklärt, wie jeder Einzelne dazu beitragen kann, einen Umsturz der Demokratie zu verhindern. Der stern hat mit Andre Wolf gesprochen und ihn zu seinen Befürchtungen für die Zukunft befragt. Wer Mimikama noch nicht kennt, dem sei zumindest das Wort erklärt: "Der Vereinsname geht auf eine Fehlübersetzung für 'Gefällt mir' durch den maschinellen Google-Übersetzer zurück", erklärt Wolf.

Herr Wolf, Sie arbeiten in Österreich für Mimikama, einen Verein, der verdächtige Inhalte im Internet überprüft. Was heißt das für Ihre Arbeit genau?
Mimikama ist ein Verein gegen Internetmissbrauch, der 2011 in Wien gegründet wurde. Ich bin kein Wiener, sondern 2017 für die Arbeit nach Österreich gezogen. Wir beantworten Anfragen von Nutzerinnen und Nutzern zu Social-Media-Inhalten. Das sind in der Regel Fragen zu Falschmeldungen, Meldungen, die unklar sind, oder stark tendenziösen Inhalten. Wir recherchieren, was dahintersteckt, fragen uns durch und publizieren die Ergebnisse auf unserer Website. Das ist unser Tagesgeschäft.
Wie viele Kolleg:innen arbeiten dort?
Hier vor Ort sind wir zwei hauptamtliche Mitarbeiter, Thomas Wannenmacher, der Gründer des Vereins, und ich. Dazu haben wir ein Redaktionsteam aus vier weiteren Kolleginnen und Kollegen, plus ein ehrenamtliches Team aus etwa 30 Personen aus verschiedenen Bereichen des Lebens, die Lust dazu haben, zu recherchieren, zu suchen, Falschmeldungen klarzustellen und das Leben auf Social Media einfacher zu gestalten.

Wie viele Anfragen können Sie pro Tag überprüfen?
Das lässt sich schwer klassifizieren. Ich kann es umgekehrt sagen: Im Normalfall bekommen wie pro Tag zwischen 80 und 120 Anfragen, das kann alles Mögliche sein. An Tagen, an denen politisch oder in der Welt mehr passiert, kommen entsprechend mehr Fragen an. Wenn zum Beispiel irgendwo ein Terroranschlag war, lauten die Fragen auch: Was steckt dahinter? Als die Corona-Pandemie vor einem Jahr begann, hatten wir auch Peaks bis zu 500 Fragen pro Tag. Wir können es nicht schaffen, alles zu beantworten, weil manche Fragen thematisch komplex sind, wenn uns etwa jemand ein einstündiges Youtube-Video von irgendeinem Kanal sendet, hat das keinen Sinn, das Punkt für Punkt durchzurecherchieren, dafür fehlen uns schlicht die Ressourcen. Einzelanfragen ohne Relevanz sortieren wir ebenso aus wie auch Hinweise, bei denen wir merken, dass uns jemand auf ein bestimmtes Thema stoßen will. Wenn jemand will, dass wir über etwas berichten, damit darüber berichtet wird, da wird radikal aussortiert.
Sie haben evangelische Theologie studiert und bekämpfen nun den Teufel – das Böse in den sozialen Medien. Wie kam es dazu?
Das hat mit meiner allgemeinen Geschichte zu tun. Ich wäre sehr gerne Pfarrer geworden, das war ein Herzensberuf. Aber ich habe zu einer Zeit studiert, in den Neunzigern, als die evangelische Kirche, von Westfalen speziell, finanziell nicht gut dastand. Es war von vorneherein klar, dass es nicht für alle Studierenden am Ende einen Arbeitsplatz geben wird, das habe ich früh gewusst. Da ich auch nicht gerade der Überflieger im Studium war, habe ich früh gemerkt, dass es für mir schwierig werden wird. Ich habe das Studium dann nicht beendet, sondern bin in die freie Wirtschaft gegangen. Dort war ich einige Jahre Verantwortlicher für Medien und Kommunikation in einem mittelständischen Betrieb, das war ganz toll. Dort habe ich die ganze technische Seite und den IT-Kram gelernt. Dann kamen Social Media und ich habe auf Facebook Mimikama entdeckt und fand das ganz toll. Die Idee zu sagen, dass anderen Menschen geholfen wird, die sich nicht so gut auskennen. Dass man sozusagen ein Fels in der Brandung für die sein kann, da habe ich mich dann auch vom Herzen her wieder gesehen. Letztendlich kombiniert das, was ich im Studium gelernt und beruflich aktiv gemacht habe. Und das mache ich jetzt seit sechs Jahren hauptberuflich.
Sie haben ein Buch geschrieben, in dem es heißt, Rechtsextreme treten in den sozialen Medien nicht mit Springerstiefeln auf. Woran kann man sie dort erkennen?
Wir sprechen da von Ideologien und Narrativen, also sinnstiftenden Erzählungen, die transportiert werden. Erzählungen, die in ihrem Kern stark rechtsextremistisch sind, über Social Media in die Mitte der Gesellschaft getragen werden und dort auch den Bogen des "Sagbaren" immer weiter spannen. Ansonsten ist das Erkennen schwierig. Natürlich haben wir eine Reihe von Social-Media-Fanboys der rechtspopulistischen Parteien, sei es in Deutschland AfD oder in Österreich FPÖ, die kann man klar erkennen. Aber diese Hinterleute, die das stark propagieren, die erkennt man nicht an einer kleinen blauen Farbmarkierung im Facebook-Profilbild oder einer Deutschlandflagge. Da werden andere Strategien angewendet, sie leiten dann Gruppen oder ganze Kanäle auf Social Media, wo gar nicht feststeht, wer dahintersteckt. Und dort werden die entsprechenden Ideologien in Form von Geschichten weiterverbreitet. Auf Twitter zum Beispiel haben diese Leute gerne als Profilbild irgendwelche Philosophen oder Liberale, Libertäre aus dem 17., 18. Jahrhundert.
Sie schreiben, das Ziel der Rechtsextremen ist erst der Umsturz und dann die Abschaffung der Demokratie. Was kommt danach?
Letztendlich geht es um eine Machtübernahme. Grundsätzlich möchte jede Partei an die Macht kommen, ihre Parteilinie stark ausprägen. Wir haben das Glück in unseren westlichen Demokratien, dass die meisten Parteinetzwerke gemäßigt demokratisch sind. Wenn wir von einer extremen Partei sprechen, die rechtsextrem wäre, liegt deren Sinn darin, die Demokratie in weiten Teilen zu demontieren. Mit einem Blick auf Ungarn sehen wir, wie das Schritt für Schritt funktionieren kann. Wenn erstmal eine Person wie Orban an der Regierung ist und das ganze steuert, dann sehen wir, dass freie Medien abgebaut werden, Journalistinnen und Journalisten unter Druck gesetzt werden und dementsprechend am Ende eine Staatsmeinung und eine Art Gleichschaltung übrigbleibt. Damit genießt die Person, die an der Macht ist, alle Privilegien auf Kosten der anderen: Wir sehen in Ungarn, dass Minderheit gedroht wird, das fängt schon bei Homosexuellen an.
Die rechtsextremen Hetzer in den sozialen Medien, schreiben Sie, sind größtenteils Männer mit mittlerer und höherer Bildung. Ist das ein Erfahrungswert von Mimikama?
Das ist ein genereller Erfahrungswert, es geht ja um die Neue Rechte, die wird aktiv von Intellektuellen betrieben. Da stecken entsprechende Verlage und Leute hinter, von denen man weiß, dass sie bestimmte Narrative und Ideologien verbreiten wollen.
Müsste ein Verein wie Mimikama nicht eigentlich staatlich gefördert und hundertmal größer sein, um wirklich etwas bewirken zu können?
Jein und ja. Zum Jein: Wir haben schon häufiger versucht, uns fördern zu lassen, aber ein Verein lässt sich nicht im Ganzen fördern, das geht nur für einzelne Projekte. Wir müssen Projekte ins Leben rufen, aber dem Hauptgeschäft käme das nicht zugute. Das wäre Unsinn. Wir würden zudem Ressourcen verschwenden, indem wir uns auf Förderungsanträge konzentrieren. Hinzu kommt: Wir wären nicht mehr unabhängig. Und das wollen wir uns bei all den finanziellen Strapazen bewahren: überparteilich und unabhängig zu bleiben. Andererseits sind wir dadurch immer in Geldnöten. Zum Ja: Es müsste viel größer und umfassender sein. Es reicht nicht, einfach nur Fakten zu prüfen und darzulegen. Für die Bewahrung der Demokratie gehört viel, viel mehr dazu. Es braucht eine wirklich große Instanz, die auf Social Media rund um die Uhr erreichbar ist. Wie eine Seelsorge, uns schreiben viele Menschen an, die einfach nur mal sprechen und uns ihr Leid klagen wollen. Darauf können wir leider nicht eingehen, weil wir die Zeit und die Möglichkeiten dafür nicht haben. Gleichzeitig müsste diese Instanz auch eine Rechtsberatung bieten, denn das fehlt vielen. Sie werden bepöbelt, beleidigt und wissen nicht, was sie machen sollen. Es müsste an der Stelle eine Schiedsstelle oder einen Ombutsmann geben, an die sich diese Menschen wenden können. Ebenso wichtig: ein Informationszentrum sowie eine Schnittstelle zwischen Regierung und Social-Media-Plattform. Letztere bräuchte besondere zugesicherte Privilegien. Diese Ideen haben wir in Österreich in einem kleinen Think Tank angestoßen und entwickeln gerade etwas. Ich bin gespannt, was dabei rumkommt. In Österreich ist die Lage noch prekärer, in Deutschland gibt es immerhin die Bundeszentrale für politische Bildung. Dass in Österreich in die Richtung etwas angestoßen wird, wäre eine Idee.
In Ihrem Buch haben Sie die Menschen, die Falschmeldungen in den sozialen Medien verbreiten, in drei Gruppen eingeteilt: die Manipulierten, die Trolle und die, die diese Meldungen erfinden. Was nützt uns diese Erkenntnis?
Zumindest habe ich erstmal gezeigt, dass nicht alle gleich sind. Wir neigen ja immer wieder dazu, alles über einen Kamm zu scheren. Aber es gibt "harmlose" Falschmeldungen, in denen jemand etwas beobachten hat, kann ich nicht gleichsetzen mit politisch motivierten oder strategisch gesteuerten Falschmeldungen. Das Teilen von Kettenbriefen ist nicht so gefährlich wie das Verbreiten einer extremen politischen Agenda. Und dann gibt es Leute, die sich einen Spaß daraus machen, andere reinzulegen, deren Zahl ist unterschätzt groß. Das ist die Troll-Gruppe, das sind diese "Scherze". Da setzt jemand was ab, ein Anderer teilt es und der Dritte kennt die Herkunft nicht mehr und geht davon aus, dass das stimmen könnte. Trollerei ist ein wichtiger Bestandteil der „Internet-Popkultur“. Der Begriff ist extrem negativ belegt, obwohl er sehr facettenreich ist. Es macht ja auch Spaß, einfach mal Unsinn zu schreiben. Aber wir müssen aufpassen, dass solche Dinge nicht ernstgenommen werden. Das Stören der Diskussionskultur ist nur ein Teil des Trollens.
Da es keine Option ist, das Internet und die sozialen Medien abzuschaffen: Was kann jeder Einzelne tun, um gegen Rechtsextreme in der eigenen Timeline vorzugehen?
Das ist eine ganz wichtige Frage und ein ganz wichtiger Vorsatz! Social Media sind ja ein wunderbar demokratisches Instrument in ihren Ansätzen. Wir alle haben auf einmal die Möglichkeit, zu Senderinnen und Sendern zu werden sowie gemeinsam zu einer Sache zu diskutieren. Aber wie können wir Manipulation abwehren? Wir müssen a) unseren Informationskonsum entschleunigen und bewusster unterwegs sein und b) einen Lernprozess anstreben. Ich muss mir bewusst sein, dass in Social Media jeden Tag etwas Neues passiert und es (noch) keine festen Rahmenbedingungen gibt. Wir müssen Leitfäden verinnerlichen, mit denen wir Manipulation erkennen können.

Was haben die Plattformbetreiber durch Trump gelernt?
Die Plattformbetreiber wollen einerseits Geld verdienen, das sehe ich völlig ein. Auf der anderen Seite tragen sie nun mal eine Verantwortung. Daher ist das Ganze ein Kompromiss. Natürlich haben sie durch Trump gelernt, natürlich haben sie aber auch schon 2015 und 2016 lernen müssen, als viele Flüchtende nach Europa gekommen sind, dass Social Media ein Ort für viele Falschmeldungen und viel Hass sein kann. Dementsprechend ist auch das ein Lernprozess, der durch solche Meilensteine immer wieder vorangetrieben wird. Durch Trump hat ein ganz neues Umdenken stattgefunden. Das begann bei Twitter, wo Trumps Falschmeldungen markiert worden sind. Das war ein Novum. Dass sie ihn dann „ausgesperrt“ haben, war wieder eines. Das ist eine Gratwanderung, die ich den Plattformbetreibern zugestehe.
Halten Sie die Medien für mitschuldig, weil sie Überschriften für soziale Medien zuspitzen und damit eventuell Missverständnisse provozieren?
Schuldfrage ungern, mitverantwortlich ja, ganz klar. Gerade der Boulevardbereich baut extreme Schlagzeilen auf, das ist in Deutschland und Österreich ziemlich identisch. Das geschieht aus der Not, die eigenen Inhalte so kurz und knackig wie möglich zu präsentieren, da sind wir bei Mimikama ja selbst nicht ausgeschlossen. Das ist ein ärgerliches Prinzip, dem wir unterlegen sind. Das Gleiche gilt für die Suchmaschinenoptimierung, mit der Google uns eigentlich vorschreibt, wie wir einen Online-Artikel zu schreiben haben: Ihr müsst euren Text auf ein Schlagwort optimieren, sonst taucht er in der Suche nicht so gut auf. Da sind wir als Medienschaffende letztendlich unterlegen.
Ihre Therapie gegen all die Hetze und den Hass ist das Laufen?
Ja, das ist tatsächlich so. Das hatte ursprünglich gesundheitliche Gründe, ich habe bis vor wenigen Jahren 110 Kilo gewogen und mich durch das Übergewicht auch ein bisschen chronisch krank gemacht. Dann habe ich von jetzt auf gleich meinen Lebensstil geändert, das Laufen für mich entdeckt und liebe es jetzt einfach. Über die letzten Corona-Monate hat es mir auch tierisch geholfen, überhaupt alles zu verarbeiten. Vieles vom Buch habe ich während des Laufens im Buch vorformuliert und zu Hause zu Papier gebracht. Vieles ist auch in der Stimmung entstanden, dass ich abends um 21 Uhr im Dunkeln durch den Prater bei Nebel alleine gelaufen bin.
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