Herr Chruschtschow, wie haben Sie den 4. Oktober 1957 in Erinnerung, jenen Tag, der die Welt veränderte?
Das war für uns längst nicht so dramatisch wie viele glauben. Ich wusste, dass wir den Sputnik starten würden. Mein Vater hatte mich im Jahr zuvor ins Labor des Sputnik-Designers Sergej Koroljow mitgenommen. Viele denken immer noch, dass die sowjetische Regierung Koroljow pushen musste wegen des Starts. Das Gegenteil war der Fall: Der wollte unbedingt. Für ihn war es das wichtigste Ding seines Lebens.
Und wie wichtig war es für Ihren Vater?
Nicht so wichtig wie für Eisenhower. Mein Vater war an diesem Tag in Kiew und traf sich mit örtlichen Politikern. Am Abend saß er mit denen zusammen und diskutierte über Landwirtschaft und Wohnungsbau. Irgendwann öffnete ein Sekretär die Tür und sagte: „Genosse Chruschtschow, ein Anruf für Sie.“ Als mein Vater zurückkam, sagte er: „Heute haben sich große Dinge ereignet. Wir haben den Sputnik, den Satelliten in den Raum geschossen.“ Und die Leute um ihn herum haben nichts begriffen. Ein wenig später stellte er dann das Radio an mit der richtigen Frequenz, und sie lauschten Sputniks Piepsignalen. Dann sagte mein Vater: „Zeit, ins Bett zu gehen.“ So war das. Ziemlich unspektakulär.
Im Westen, vor allem in den USA, löste der Sputnik eine immense Schockwelle aus...
Und wir verstanden das nicht recht. Es war eine große Leistung, keine Frage. Aber in der Sowjetunion hatte niemand das Gefühl, dass sich mit dem Sputnik die Welt verändert hätte. Unsere Selbstwahrnehmung war schließlich die, dass wir in vielen Dingen dem Westen überlegen waren. Wir hatten immerhin das erste, wenn auch kleine Atomkraftwerk gebaut. Ich war eher erstaunt, dass sie so lange brauchten mit dem Sputnik.
War Ihr Vater über die Reaktion im Westen überrascht?
Er war vor allem darüber überrascht, dass die Amerikaner uns den Gefallen taten und auf diese Weise Werbung für unsere Technologie machten.
Wann hat er begriffen, dass der Weltraum auch als Propaganda-Werkzeug taugte?
Er verstand schnell. Danach wurde ja Sputnik II mit dem Hund Laika an Bord ins All geschickt. Aber die Bevölkerung begriff erst richtig, als Juri Gagarin ins All geschossen wurde. Die Reaktionen darauf waren gigantisch.
Das war der nächste große Schock für die Amerikaner...
Es war ein Schock für sie, weil sie dachten, sie seien in allen Belangen führend. Bei uns wurde dieses Wettrennen zumindest anfangs komplett anders wahrgenommen. Wir machten unser Ding, und die Amerikaner machten ihres. So war das auch mit den Interkontinentalraketen. Das änderte sich aber Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre. Aus der Rivalität wurde das Weltall-Wettrennen. Es war fast wie bei Olympia: Wie viele Medaillen haben die, wie viele haben wir? Jede Seite wollte immer eine Medaille mehr als die andere haben, und das Volk schaute zu wie bei einem Fußballspiel.
Es heißt, Chruschtschow sei an diesem Wettlauf gar nicht so interessiert gewesen.
Mein Vater hatte andere Prioritäten: Landwirtschaft, Wohnungsbau, Landesverteidigung und erst dann das All. Und er wollte möglichst wenig dafür ausgeben. Er sagte oft: „Wir können ein Rennen nicht gewinnen, die amerikanische Wirtschaft ist viel stärker als unsere.“ Er hielt das für absolut destruktiv. Mais und Milch waren für ihn wichtiger als der Mond.
US-Präsident John F. Kennedy schlug sogar eine Kooperation beim Mond-Rennen vor...
Sogar zweimal. Aber die Geschichte geht weiter zurück. 1955 hatte Eisenhower seinen Plan der „Open Skies“, also der Überflugrechte, vorgeschlagen. Vater lehnte das ab. Er sagte, die Amerikaner würden dann sehr schnell realisieren, wie schwach wir in Wahrheit waren und das könnte einen Angriff provozieren. Der Grund, warum wir nicht zustimmten, war also nicht, weil wir etwas zu verstecken hatten. Das Einzige, was wir zu verstecken hatten, war, dass es nichts zu verstecken gab. Und dann kam Kennedy 1961 mit dieser Kooperations-Idee. Kennedy musste fürchten, dass wir auch den ersten Mann auf dem Mond landen würden. Und was wäre das für eine Demütigung für die USA gewesen! Deshalb schlug er die Zusammenarbeit gewissermaßen als Versicherung für sich vor. Vater lehnte ab.
Sergej Chruschtschow
Sergej Chruschtschow, 72, ist Sohn des früheren sowjetischen Premiers Nikita Chrustschow. Der ausgebildete Raketen-Ingenieur lebt mit seiner Frau Valentina seit 1991 in den Vereinigten Staaten und lehrt am Watson Institut für Internationale Studien der Brown University in Providence, Rhode Island.
Aus Stolz?
Nein. Er hielt die Sowjetunion immer noch für zu schwach und wollte das nicht preisgeben. Das änderte sich erst 1963 nach der Kuba-Krise, weil wir uns danach auf Augenhöhe mit den Amerikanern fühlten. Wir hatten eben so viele Raketen und Interkontinental-Raketen. Vater sagte damals: „Jetzt können wir Ihnen unsere Stärke zeigen.“ Er wäre wohl bereit gewesen für das gemeinsame Mondprojekt. Das sagte er mir. Dann wurde Kennedy erschossen und ein Jahr später mein Vater aus dem Amt getrieben.
Rein hypothetisch: Was hätte aus einer solchen Zusammenarbeit entstehen können?
Die Geschichte hätte anders ausgehen können. Nach der Kuba-Krise vertrauten die Seiten einander mehr. Sie hatten ein gemeinsames Ziel: keinen Krieg. Und Vater erwog ernsthaft, die Truppen dramatisch zu reduzieren. Wenn man das weiter spinnt, hätte der Kalte Krieg sehr viel früher aufhören können, vielleicht schon Ende der 60er-Jahre. Womöglich gäbe es die Sowjetunion sogar noch. Aber sie sähe anders aus, viel stärker an der Marktwirtschaft orientiert.
Sie sind seit acht Jahren US-Bürger. Wie sehen Sie Ihre alte und neue Heimat?
Die Mentalität der Menschen in beiden Ländern ändert sich sehr, sehr langsam. Ich glaube, es wird noch Generationen brauchen, bis in Russland wirklich Demokratie herrscht. Und hier? Wir Europäer waren immer von Feinden umgeben. Die Amerikaner nicht, sie sind durch zwei Ozeane geschützt. Die Kuba-Krise beispielsweise war weniger eine militärische als vielmehr eine große Krise der amerikanischen Seele.
Wie meinen Sie das?
Für sie war es das erste Mal, dass der Feind gewissermaßen vor der Tür stand. Die Anschläge des 11. September haben diese Ur-Ängste wieder verstärkt. Amerikaner sind leicht zu manipulieren und glauben an Massenvernichtungswaffen im Irak oder eine Gefahr durch Nordkorea. Vor kurzem fragte mich ein Student: „Wie gefährlich sind Nordkoreas Raketen?“ Und ich sagte: Oh, sehr gefährlich! Aber nur für die armen Kerle am Boden, die sie zünden müssen.