Krieg in der Ukraine Invasion aus der Röhre – Kiew verliert den Verteidigungsgürtel bei Awdijiwka

Ukrainische Artillerie in der Nähe von Awdijiwka
Ukrainische Artillerie in der Nähe von Awdijiwka
© Ozge Elif Kizil / Picture Alliance
Seit Monaten wird um die Festungsstadt Awdijiwka gekämpft, nun musste die Ukraine eine bittere Niederlage einstecken. Die Russen haben eine alte Pipeline genutzt, um die Verteidiger zu umgehen. Der Anfang vom Ende?

In den vergangene Tagen hat sich die Situation in der umkämpften Stadt Awdijiwka weiter verschärft, den Russen ist ein überraschender Vormarsch gelungen. Seit Monaten wird erbittert um die Stadt gerungen, die ab 2014 von Kiew zu einer Festung ausgebaut worden war. Die Russen haben Awdijiwka von drei Seiten umschlossen. Sie konnten die Eisenbahnverbindung unterbrechen und im Norden der Stadt eine beherrschende Höhe – es handelt sich um die Abraumhalde einer gewaltigen Kokerei – in Besitz nehmen. Es gelang ihnen aber nicht, die letzten offenen Passagen in die Stadt zu schließen.

Die Kämpfe um die Stadt sind hart und voller Verluste. Die Russen haben bei ihren Angriffen Unmengen an gepanzerten Fahrzeugen verloren. Die ukrainischen Verteidiger leiden ununterbrochen unter Artillerie und Gleitbomben. Beide Seiten setzen FPV-Drohnen ein, angeblich sollen die Russen hier dominieren, doch gelang es ihnen nicht, die ukrainischen Drohnen nachhaltig zu stören.

Vormarsch in Zeitlupe

Trotz aller Verluste konnten die Russen in den letzten Wochen kleinere Gewinne erzielen, das geschah aber so langsam, dass der Fall der Festungsstadt in weiter Ferne schien. Doch nun gelang es den Invasoren, die Front um mehr als vier Kilometer zurückzuwerfen. Im Zweiten Weltkrieg wären vier Kilometer keine besondere Meldung wert gewesen, im zähen Bodenkrieg der Ukraine aber ist das eine gewaltige Distanz, insbesondere in einem so schwer befestigten Gebiet.

Es geht um eine Zone südlich, gelegen zwischen Eisenbahn, der großen Straße H20 und der eigentlichen Stadt, die aus Wald und einfacher Bebauung besteht. Der Widerstand stützt sich auf ausgedehnte Graben- und Bunkersysteme. In der Ebene westlich wird die Zone von einem Strongpoint in einem alten Militärstützpunkt geschützt.

Überrumpelte Ukrainer

Mit einem überraschenden Schlag ist es den Russen gelungen, das ganze Stellungssystem auszuhebeln. Ihre Kommandos haben eine verlassene Pipeline entdeckt und sollen diesen Tunnel genutzt haben, um weit im Rücken der Ukrainer wieder aufzutauchen. Diese Operation scheint seit langer Zeit geplant gewesen zu sein. Die Angreifer mussten warten, da zunächst Wasser in der Röhre stand. Die enge Röhre musste außerdem belüftet werden, damit die eigenen Leute nicht darin ersticken. Die notwendigen Arbeiten wurden mit dem Lärm von Artilleriebeschuss getarnt. Die russischen Angaben lassen sich natürlich nicht unabhängig überprüfen, bieten aber eine schlüssige Erklärung für die ukrainische Niederlage.

Die Russen schweißen einen Ausstieg aus der Röhre.
Die Russen schweißen einen Ausstieg aus der Röhre.
© Telegram

Durch die russische Eroberung geraten die Zonen westlich und östlich davon, die noch von den Ukrainern gehalten werden, in unmittelbare Gefahr, und zwar eher früher als später. Fallen sie an die Russen, hätte Kiew den gesamten Raum südlich des eigentlichen Stadtgebiets verloren. Das bedeutet noch nicht das Ende der Stadt – macht es aber wahrscheinlicher. Die Geschehnisse jetzt bilden die Ouvertüre zum einem Endkampf, der sich noch Wochen hinziehen kann.

Aufgabe oder Widerstand bis zuletzt

Dabei hat sich die Situation der Verteidiger weiter verschlechtert, sogar topografisch. Die südliche Zone im russischen Besitz liegt höher als die Stadt, die Ukrainer können demnach vom Abraumhügel im Norden und dem Waldgebiet im Süden eingesehen werden. Außerdem ist es für Verteidiger generell schlecht, in einem immer kleineren Raum zusammengedrängt zu werden, auch weil das die Artillerie des Feindes enorm begünstigt. Immerhin werden die Zonen mit massiver Bebauung im Stadtkern und die riesige Kokerei nach wie vor von Kiew gehalten. Sie dürften in den nächsten Wochen die Pfeiler der Verteidigung sein.

Niemand kann sagen, wie diese Schlacht weiter- oder gar ausgeht. Das hängt von den Entscheidungen des ukrainischen Oberkommandos ab. Nicht undenkbar, dass die Stadt aufgegeben wird, um einen Großteil der überlebenden Soldaten zu retten. Genauso scheint es möglich, Awdijiwka – so wie Bachmut – bis zum letzten Moment halten zu wollen, als Wellenbrecher und Knochenmühle für den Gegner. In Bachmut schafften es allerdings damals die letzten Verteidiger noch, sich zu den eigenen Reihen retten. In Awdijiwka, mit seiner Lage und Ausrichtung, könnte es passieren, dass die Ukrainer Moment eingekesselt werden und ein Entkommen unmöglich wird. 

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