Krieg in der Ukraine Putin ist am Zug: Diese Bedeutung hat die Schlacht um Awdijiwka

Ein ukrainischer Soldat geht durch die Straßen von Awdijiwka. Die Stadt ist Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen der Ukraine und Russland
Ein ukrainischer Soldat geht durch die Straßen von Awdijiwka. Die Stadt ist Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen der Ukraine und Russland
© Libkos / DPA
Die Russen haben in wenigen Tagen etwa 100 gepanzerte Fahrzeuge verloren. Sie versuchen die Stadt Awdijiwka einzukesseln. Wenn das gelingt, droht Kiew eine Niederlage wie in Bachmut. 

In der Ukraine hat es begonnen zu regnen, die Schlammperiode senkt sich über das Land. Damit ist die ukrainische Sommeroffensive zu Ende. Die Gewinne sind enttäuschend begrenzt. Keines der erklärten Ziele wurde erreicht. Bachmut wurde nicht eingekreist oder gar befreit. Der südliche Angriffsarm der Ukrainer konnte die Russen dort von einem Höhenzug vertreiben und einige Dörflein einnehmen. Auch der russische Frontvorsprung südlich von Vremivka wurde eingedrückt. Der größte "Erfolg" gelang im Raum Mala Tokmachka. Hier konnte Kiew einige Kilometer vorstoßen und das Dorf Robotyne erobern. Aber es gelang nicht, den Einbruch zum Blühen zu bringen, es kam zu keinem tiefen Vormarsch. In den letzten Wochen erlahmten die Kampfhandlungen zusehends, tendenziell verlieren die Ukrainer an Boden. Es ist unwahrscheinlich, dass Kiew erneut Kräfte für eine Offensive großen Stils zusammenziehen kann.

Putins Herbstoffensive 

In dieser Situation hat eine große Operation Russlands begonnen. Schon seit Wochen versuchen die Russen im Norden der Front vorzurücken, ihr Vormarsch verlief dort genauso zäh wie der der Ukraine. Doch in dieser Woche machte Putin den Eröffnungszug für Herbst und Winter. Wie alles in diesem Krieg ist das Ziel wenig überraschend. Es ist die Stadt Awdijiwka, sie liegt kurz vor Donezk und wird seit 2014 von den ukrainischen Streitkräften gehalten. Es handelt sich nicht um ein Bachmut II – Awdijiwka ist eine Festung, es ist die am stärksten befestigte Stadt in der Ukraine. Deutlich mehr als 10.000 Soldaten sollen die Festung halten. Die Stadt wird von Bahnwällen geschützt, sie verfügt über ein Zentrum mit Hochhäusern, die die Umgebung beherrschen, und über Minen und Tunnel, als Rückgrat der Verteidigung. Die gesamte Gegend ist von Gräben durchzogen.

Die Karte zeigt den groben Verlauf der Frontlinie.
Die Karte zeigt den groben Verlauf der Frontlinie.
© Twitter

Schwere Verluste bei begrenzten Gewinnen

Beim Angriff haben die Russen erstmals in diesem Jahr große Mengen an Kampfpanzern und gepanzerten Fahrzeugen bewegt. Und dabei auch schwere Verluste erlitten, doch die Kolonnen zeigen auch, dass große Mengen an Truppen für diese Operation bereitstellen. Die Offensive entlarvt auch, das Wunschdenken auf der anderen Seite. Als offenbar wurde, dass Kiew keinen Durchbruch zum Meer erreichen wird, wechselte das Erfolgsnarrativ. Die Eroberung des Gebietes war nicht mehr so wichtig, es wurde behauptet, die russischen Verteidiger würden weit höhere Verluste als die Ukrainer erleiden. Moskau würde zwar die Linie halten, aber alsbald keine Truppen mehr zu Verfügung haben. Der russische Angriff jetzt deutet eher auf das Gegenteil hin.

Stadt ist weitgehend umfasst 

Und tatsächlich ist die Festung Awdijiwka nicht unbesiegbar. Denn die Stadt liegt in einem Frontvorsprung, an zwei Seiten ist sie von den Russen umgeben, im Süden zumindest halb. Dort haben die Russen die Dörfer Vodyane und Opytne erreicht. Aus der Richtung Donezk sind sie vom Vorort Spartak aus in den äußeren Verteidigungsring der Stadt eingedrungen. Am bedrohlichsten ist die Lage im Norden. Dort haben die Russen die Eisenbahnlinie gekappt, sich den Dörfern Stepove und Berdechi genähert und sie konnten sich zumindest zeitweise auf dem Abraumhügel der Chemiefabrik einnisten. Die Kämpfe um diesen Hügel sind für den nördlichen Abschnitt entscheidend, da die Höhe die Umgebung überblickt und beherrscht.

Die Lücke zwischen Berdechi im Norden und Stepove im Süden ist etwa zwölf Kilometer breit. Durch sie müssen Nachschub und Verstärkung gebracht werden. Die einzige größere Straße ist die O0542, die von der Chemiefabrik durch Orlivka führt. Russlands Ziel ist es, die Lücke zu schließen beziehungsweise sie auf etwa vier Kilometer einzugrenzen und so einen "Taktischen Kessel" zu schaffen, bei dem sie die Feuerkontrolle über die einzige Zufahrtsstraße besitzen.

Die dominierende Anraumhalde im Norden der Stadt.
Die dominierende Anraumhalde im Norden der Stadt.
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Die russische Strategie übt an mehreren Stellen Druck auf die ukrainischen Kräfte aus. Das eigentliche Stadtgebiet wird von zwei Richtungen aus angegriffen. Die Verteidiger müssen verhindern, dass die Russen in die Stadt eindringen oder den beherrschenden Schutthügel einnehmen. Gleichzeitig bauen die Russen ihre beiden Umklammerungen aus. Hier müssen die Ukrainer die Angriffe im Süden Richtung der Stadt Pervomais'ke weiter aufhalten und am besten die nördliche Zange mit einem eigenen Gegenangriff zerschlagen.

Bessere Ausrüstung 

Die halbe Umklammerung begünstigt die russischen Operationen, zudem sind sie besser aufgestellt als zu Beginn der Schlacht um Bachmut. Die einstige Unterlegenheit bei kleinen Kampfdrohnen ob nun Kamikaze-Modelle oder Quadcopter ist vorbei, in den letzten Monaten konnten die Russen hier eine deutliche Überlegenheit erzielen. Durch die in der Reichweite gesteigerte Lancet-Drohne können sie Präzisionsangriffe bis etwa 70 Kilometer hinter der Front durchführen, damit wird die Reichweiten-Überlegenheit der westlichen Artilleriesysteme konterkariert. Dazu sollen die Russen inzwischen selbst über Präzisionsgranaten hoher Reichweite verfügen. Hinzu kommt der Einsatz von Gleitbomben nun auch der schweren Typen von 1500 Kilogramm. Diese Bomben verändern den Kampf in bebauten Städten vollkommen, weil sie ganze Hochhäuser in Schutt und Asche legen können.

Weichenstellung in den nächsten Wochen

In den nächsten Tagen und Wochen wird sich das Schicksal der Stadt entscheiden. Wenn es den Russen gelingen sollte, sie im Wesentlichen einzukesseln, droht Kiew eine weitere schwere Niederlage – auch wenn die Stadt noch Monate gehalten werden kann. Die Ukrainer können darauf hoffen, dass die hohen Verluste an gepanzerten Fahrzeugen die russische Offensive zum Erliegen bringen. Bisher sollen die Russen etwa 100 gepanzerte Fahrzeuge verloren haben. Unter diesen Verlusten erreichten sie zwar relativ schnell einige Geländegewinne, doch auf diese Weise werden sie nicht fortfahren können. Eventuell kann die Ukraine auch Kräfte zusammenbringen, die die russischen Angriffszangen mit einem Gegenangriff zerschlagen, bevor es den Russen gelingt, ihre Positionen zu verbreitern und zu befestigen. Ein Einschluss der Stadt für wäre Kiew fatal, aber ein Zusammenbruch der Offensive wäre auch für Moskau ein Debakel. Er würde zeigen, dass das russische Militär in Sachen Offensive seit dem Überfall nichts dazu gelernt hat. Die Lage ist also ernst, doch die russischen Verluste und der Verlust der zuvor eroberten Abraumhalde machen den Verteidigern Hoffnung.

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