In den letzten Wochen konnte die Ukraine Erfolge verbuchen. Dazu zählen die spektakuläre Versenkung des russischen Raketenbootes "Ivanovets". Dazu kommen Drohnenschläge tief in Russland, die sich vor allem gegen Raffinerien richten. Sie sind weit mehr als PR-Erfolge, sie haben das Potenzial, tatsächlich die russische Kriegsmaschine zu treffen. Doch am Boden sieht es anders aus. Seit Wochen ist die Initiative an die Russen übergegangen. An mehreren Stellen wurden und werden die ukrainischen Truppen zurückgedrängt.
Im Fokus stehen die harten Kämpfe um die Festungsstadt Awdijiwka, unweit der Separatistenhochburg Donezk. Seit Monaten wird um die stark befestigte Stadt gerungen. Und obwohl Awdijiwka von drei Seiten eingeschlossen ist, gelang es den Russen bislang nicht, den Kessel zuzumachen. Seit dem Wochenende sieht es nun so aus, als müssten sie den Einschluss gar nicht mehr anstreben. Die Russen stehen nun kurz davor, den "Beinahe-Kessel" in der Mitte zu spalten. Gelingt ihnen dies, ist die Stadt unrettbar verloren.
Vor etwa 14 Tagen haben die Invasoren den Verteidigungsgürtel südlich des eigentlichen Stadtgebietes erobert. Dabei haben ihre Sturmtruppen eine stillgelegte Pipeline benutzt, um sich unbemerkt in den Rücken der Verteidiger zu bringen, die ihre Gräben und Bunker aufgeben mussten. Und offenbar gelang es den Russen danach, sich in der einfach bebauten Zone festzusetzen und die wütenden Gegenangriffe der Ukrainer abzuwehren. Die russische Position wird verbessert, weil sie mit ihrem Coup die Höhen südlich der Stadt in ihren Besitz bringen konnten.
Zone am Badesee ging verloren
Am Wochenende spitzte sich die Lage am anderen Ende der Stadt weiter zu. Im Nordosten der Stadt konnten die Russen an zwei Linien entlang eines Badesees vorstoßen und einen Streifen, der mit Datschen bebaut ist, in Besitz bringen. Damit wurden alle ukrainischen Positionen östlich der Datschen-Siedlung unmittelbar bedroht.
Darüber hinaus konnten sie in das eigentliche Stadtgebiet eindringen. So markiert es auch die pro-ukrainische Seite "Deep State Map". Ein russisches Video zeigt ein Zeichen der "Volksrepublik Donezk" auf der Eisenbahnbrücke, eine Kommandogruppe konnte so weit vorrücken. Wenn Putins Truppen diese Position halten können, werden sie die Stadt in der Mitte durchschneiden. Dabei sparen sie die stärksten Stellen der Verteidigung aus. Im Norden halten die Ukrainer die riesige Kokerei. Die massive und unübersichtliche Bebauung der alten Anlage bietet ihnen Schutz. Und im Süden stützen sich die Verteidiger auf die Hochhäuser der Innenstadt, der Zitadelle.
Lang und schmal
Insgesamt ist Awdijiwka sehr langgestreckt und dabei aber sehr schmal. Hinter der Eisenbahnlinie liegen nur noch etwa 700 Meter einfach bebauten Geländes. Geht auch dieser Streifen verloren, ist der Kessel nicht nur gespalten, auch die letzten Zufahrtswege werden abgeschnitten. Die Ukrainer müssten Verletzte und Nachschub dann streckenweise über offene Felder transportieren.
Die letzten russischen Erfolge zeugen vom Nachlassen der Widerstandskraft in der Stadt. Vermutlich gelingt es den Ukrainern nicht, neue Truppen und Versorgungsgüter in ausreichendem Maßstab heranzubringen. Dazu kommt eine Besonderheit der Kriegsführung. Die ukrainische Verteidigung setzt auf "Feuerwehreinheiten", um einen Begriff aus dem Zweiten Weltkrieg zu benutzen. Die ersten Gräben und Bunker werden von Truppen der zweiten Linie besetzt. Einheiten der Territorialverteidigungen und eingezogenen Soldaten mit knapper Ausbildung. Sie sind dafür da, ein Einsickern der Russen zu verhindern, bei einem größeren Angriff Widerstand zu leisten und der Attacke ihren Schwung zu nehmen. Der Gegenangriff wird dann von den Truppen der "großen" Brigaden ausgeführt. Derzeit sieht es so aus, als hätte sich die Kraft dieser Elitetruppen, beim Versuch die Russen im Süden zurückzuwerfen, erschöpft.
Geringe Chancen, das Blatt zu wenden
Noch besteht die Möglichkeit, die Russen wieder aus dem Stadtgebiet zu drängen. Da das aber schon im Süden nicht gelang, sollte man nicht auf einen Erfolg vertrauen. Die Spaltung der Stadt und das Abschneiden der letzten Wege markiert die letzte Phase der Kämpfe. Wie lange es bis zum Ende dauert, entscheidet vermutlich das russische Oberkommando. Es wird entscheiden, ob die Kämpfe mit energischen Angriffen und eigenen Verlusten fortgesetzt werden oder ob man die Infanteriekämpfe abflauen lässt und auf Drohnen, Artillerie und Gleitbomben setzt. Im Vertrauen darauf, dass Nachschubmangel und fehlende Ersatztruppen die Verteidiger von allein schwächen werden.
Im Nordwesten der Stadt wurden erstmals amerikanische Abrams-Kampfpanzer in der Nähe der Front gesichtet. Denkbar ist es, dass Kiew versucht, die nördliche Umfassung der Stadt zu attackieren. Ein Erfolg wäre fraglich, die russische Position dort ist nicht ausgezeichnet, aber die Russen hatten Monate Zeit sich auf so einen Angriff vorzubereiten.
Was würde der Verlust der Stadt bedeuten?
In jedem Fall wäre der erneute Verlust einer Stadt eine Demütigung und PR-Niederlage für Kiew und ein Gewinn für Putin. Doch der Fall dieser Stadt wäre noch weit schlimmer als der von Bachmut. Damals lautete das Narrativ: Der heldenhafte Widerstand habe Zeit gewonnen. Zeit, in der neue Truppen ausgebildet werden, die dann in der folgenden Sommeroffensive die Russen zurücktreiben werden.
Dieses Narrativ ist nach dem Scheitern der Offensive verbraucht. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass die russische Methode, mit dem Vorschlaghammer einzelne Städte zu zerstören und einzunehmen, zwar langsam aber stetig vorankommt. Auch heute muss man nicht fürchten, dass die Russen wirklich tiefe Einbrüche erzielen. Aber sie werden sich auf die nächste Stadt zu bewegen.
Im Netz tröstet man sich mit Videos, die russische Verluste dokumentieren, und verschließt beide Augen vor den Videos der Gegenseite. Der Kampf um Awdijiwka war und ist für beide Seiten verlustreich. Die Ukrainer werfen auch schlecht ausgebildete Truppen in den Kampf. In der Stadt setzen ihnen russische Artillerie und Gleitbomben zu. Der Fall von Awdijiwka würde dazu führen, dass viele Ukrainer Zweifel bekommen, dass Kiew diese Art von Abnutzungskrieg ewig durchhält. Derzeit propagieren westliche Experten die Idee einer "Gegenoffensive 2025". Übersetzt kann man sagen: Dann müssen die Truppen an der Front noch über ein Jahr dem russischen Druck standhalten, ohne eine Chance abgelöst zu werden.