Armeechef der Ukraine abgesetzt Darum feuert Präsident Selenskyj seinen populärsten General

Was macht der General nun? Tritt er beiseite oder löst er ein politisches Erdbeben aus?
Was macht der General nun? Tritt er beiseite oder löst er ein politisches Erdbeben aus?
© Picture Alliance
In der Ukraine hat Wolodymyr Selenskyj seinen angesehensten General entlassen und durch einen engen Gefolgsmann ersetzt. Die spannende Frage ist nun: Verschwindet der geschasste Walerij Saluschnyj in der Versenkung – oder fordert er den Präsidenten politisch heraus?

General Walerij Saluschnyj wurde von Präsident Selenskyj aus dem Amt gedrängt und ein Nachfolger bestimmt. Der Schritt kam nicht überraschend. Nach der gescheiterten Sommeroffensive wurden die Spannungen zwischen dem Oberkommandierenden und seinem Präsidenten unübersehbar. Die vergangenen Wochen waren von Berichten bestimmt, dass Selenskyj seinen General zu einem einvernehmlichen Abgang drängen wolle. Eine Abberufung war stets das Recht des Präsidenten, doch nun spielte auch Saluschnyj mit. Zumindest der  Schein eines Einvernehmens wurde gewahrt inklusive Buddy-Foto von dem Treffen und Ehrung des Generals am folgenden Tag. Das ist einerseits eine gute Nachricht. Dass dem Präsidenten die Ablösung gelungen ist, beweist den Vorrang der Politik vor dem Militär und ist damit ein Indiz für eine intakte Demokratie in der Ukraine.

Vater der Armee

Doch Saluschnyj ist mehr als nur ein General. Er ist der Vater der ukrainischen Streitkräfte, deren Neuaufbau er nach 2014/15 initiierte und leitete. Niemand dürfte in der Truppe so einflussreich, vernetzt und angesehen sein. Dass die Ukraine nach dem Einmarsch Russlands nicht zusammengebrochen ist und die Invasion stoppen konnte, ist sein Verdienst. Der Aufbau von Truppen, die auch in für sie aussichtsloser Lage noch kämpfen, ebenfalls.

Saluschnyj ist kein Dogmatiker, er ist Pragmatiker. Als die ersten Vorstöße der Gegenoffensive mit großen Verlusten liegen blieben, konnte er umschalten. Von der hochtrabenden Nato-Doktrin, die allein wegen der fehlenden Luftunterstützung in der Ukraine wenig helfen konnte, griff er auf Rezepte aus dem Zweiten Weltkrieg zum Überwinden tiefgestaffelter Verteidigungsstellungen zurück. Dazu ist er eine "Vaterfigur", dem das Schicksal seiner Leute am Herzen liegt und der versucht, so viele Leben wie nur möglich zu bewahren. Selbst die Misserfolge an der Front konnten seiner Beliebtheit keinen Abbruch tun. Saluschnyj ist die angesehenste Person in der Ukraine. Ganz anders als Präsident Selenskyj, dessen Beliebtheit in den letzten Monaten sichtbar gelitten hat. 

Aber auch sein Nachfolger, der bisherige Kommandant der Landstreitkräfte Oleksandr Syrskyj, bringt Verdienste mit. Er war maßgeblich an der konkreten Verteidigung der Hauptstadt beteiligt. Unter seinem Kommando glückte die Charkiw-Offensive. Die erste Operation, die die Russen im Kampf zurückgeworfen hat. Dann hat er den Wellenbrecher Bachmut befehligt, der den russischen Angriffen lange widerstand, bis die Stadt letztlich aufgegeben werden musste. 

Nicht nur Erfolge

Doch bei beiden Generälen gibt es auch eine weniger strahlende Seite. Die Charkiw-Operation war in vielerlei Hinsicht ein Zufallstreffer und nicht das Ergebnis genialer Generalstabsarbeit. Damals gelang es den Ukrainern nach mehreren erfolglosen Versuchen eine schwache Stelle in der dünnbesetzen russischen Front zu finden. Sie brachen mit eigentlichen schwachen Kräften in das Hinterland ein, daraufhin kollabierte der gesamte russische Frontbogen. In Panik zogen sich die Russen zurück. Das Ganze offenbarte ein komplettes Versagen der russischen Führung auf allen Ebenen. Bei einem energischeren und besser vorbereiteten Kommandeur auf der Gegenseite, hätte die Operation einen ganz anderen Verlauf genommen. 

Das größte Manko von Syrskyj ist die Verteidigung von Bachmut. Von vielen pro-ukrainischen Militärbloggern wird Syrskyj geradezu gehasst. Als die Russen auf die Stadt einstürmten, erlitten sie viel höhere Verluste als die Verteidiger. Doch später kehrte sich das Verhältnis um, aus militärischen Gründen hätte man die Stadt aufgeben müssen, um die verbleibenden Truppen herauszulösen. 

Syrskyj wird vorgeworfen, den Wellenbrecher Bachmut aus politischen Gründen viel zu lange gehalten zu haben. Quasi bis zum letzten Haus und Mann, dazu werden ihm selbstmörderische und sinnlose Gegenangriffe angekreidet. Kurzum: Wo Saluschnyj als Vater seiner Soldaten gilt, hängt Syrskyj der Ruf eines Schlächters an. 

Tatarigami_UA, einer der einflussreichsten pro-ukrainischen Blogger, schrieb im November über ihn: "Syrskyjs Ansatz führt zu einem nie endenden Kreislauf erfolgloser Angriffe, die das Personal belasten. Sein Versäumnis, die Truppen Anfang des Jahres rechtzeitig aus Bachmut abzuziehen, gepaart mit seiner Besessenheit, es mit Hilfe der Taktiken der Wagner-Gruppe zurückzuerobern, erschöpft unsere Ressourcen weiter und hat weitreichendere Konsequenzen, als die Menschen vielleicht ahnen."

Gerade jetzt, wo die Front an mehreren Stellen nachgibt, wird befürchtet, dass Syrskyj der Linie des Präsidenten folgt und versuchen wird, die Front um jeden Preis zu halten. 

Gescheiterte Offensive 

Auch bei Saluschnyj gibt es einen blinden Fleck. Als Oberkommandierender ist er letztlich für die Lage verantwortlich, und da sind die Erfolge rar. Seit anderthalb Jahren kann Kiew keinen Sieg verbuchen. Die Sommeroffensive führte unter hohen Verlusten nur zu minimalen Einbrüchen in das russische Stellungssystem. Ganz unabhängig davon von welchen Beratern das Vorgehen nach Nato-Standard empfohlen wurde, Saluschnyj hat es als Oberkommandierender abgesegnet und seinen Truppen befohlen. Auch wurde den Ausbau der russischen Befestigungen sträflich unterschätzt und ebenso Ausdehnung und Dichte der Minenfelder. Wer, wenn nicht das Oberkommando, trägt dafür letztlich die Verantwortung? 

Keinen Weg zum Sieg

Verfolgt man Saluschnyjs Äußerungen, kann man seinen klaren Blick und seinen Pragmatismus bewundern, doch bietet er Kiew keine Zukunftsperspektive. Die politische Vorgabe aus der Politik lautet nach wie vor grandioser Sieg, Befreiung aller besetzter Gebiete inklusive des Donbass' und der Krim. Doch Saluschnyj weiß keinen Weg zu diesem Ziel. Er erkennt an, dass große Operationen auf dem Schlachtfeld kaum möglich sind. Solange nicht ein technisches Wunder die Drohnen des Gegners lähmt. Dazu fordert er 500.000 Mann neue Truppen. Eine Zahl, bei der man sich nicht vorstellen kann, wie diese Menge rekrutiert, ausgerüstet und ausgebildet werden kann. 

Saluschnyj würde in eine optimierte und elastische Verteidigung übergehen, die den Russen starke Verluste beschert. Das ist aber nicht der Weg zum Sieg, wie Selenskyj ihn fordert, so kann man den Gegner nur aufhalten und ermüden, bis es dann doch zu einem Kompromissfrieden kommt. 

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Militärische Ausrüstung wird im russischen Pavillon auf der "World Defense Show 2024" nahe der saudischen Hauptstadt Riadausgestellt
© Fayez Nureldine / AFP
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Saluschnyjs politische Option

Grundsätzlich ist im Militär niemand unersetzbar. Während der gescheiterten Wagner-Meuterei triumphierten viele im Westen. Ohne die Söldnergruppe und nach der Säuberung bei kritischen Militärs sah man Putin schon am Ende. Nichts davon ist eingetreten. Zumal Oleksandr Syrskyj als Kommandant der Landstreitkräfte kein Außenseiter ist, sondern die zweitwichtigste Figur im Militär. Wie er seine Aufgabe angeht, wird man schon in den nächsten Tagen sehen. Syrskyj übernimmt das Oberkommando in einer schwierigen Situation. Die Verteidigung der Stadt Awdijiwka steht kurz vor dem Kollaps. Die Frage lautet, wie wird Syrskyj dieser Krise begegnen? 

Noch spannender ist die Frage, ob Saluschnyj den neuen Kurs mitträgt und sich geräuschlos in die zweite oder dritte Reihe stellen lässt. Sollten die Gerüchte zutreffen, die ihm politische Ambitionen unterstellen, könnte sich zu der Krise an der Front eine Krise in Kiew  gesellen. Eigentlich stünden im März Wahlen in der Ukraine an. Präsident Selenskyj will sie vermeiden, so wie schon die Parlamentswahlen, und folgt damit auch der Verfassung. Diese Linie wäre jedoch nur schwer durchzuhalten, wenn der Präsident von einer populären Figur wie Saluschnyj offen herausgefordert wird. 

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