Krieg in der Ukraine Die Front wankt, doch mit dieser Gegenoffensive könnte der neue Oberkommandierende die Lage retten

Französische motoriserte Haubitze vom Typ Caesar arbeitet bei Awdijiwka 
Französische motoriserte Haubitze vom Typ Caesar arbeitet bei Awdijiwka 
© AP
Die Stadt Awdijiwka steht vor dem Fall, nur ein Angriff auf den Belagerungsring kann sie retten. Die Operation ist für den neuen Oberkommandierenden Syrskyj riskant, ein Fehlschlag würde die Ukraine 2024 lähmen.

Es warten viele Aufgaben auf den Oberkommandierenden Oleksandr Syrskyj, doch beweisen muss er sich sofort. Die Situation in der belagerten Stadt Awdijiwka spitzt sich von Tag zu Tag zu. Bachmut hat Syrskyj buchstäblich bis zum letzten Mann gehalten, seine brutalen Methoden haben ihm den Beinamen "der Schlächter" eingetragen. Es ist schwer vorstellbar, dass er als erste Amtshandlung die Festungsstadt Awdijiwka aufgeben wird.

Inzwischen ist es absehbar, dass die Russen den Beinahe-Kessel aufspalten und die letzten Zufahrtswege kappen. Im Moment trennt sie nur das "Motor Depot" davon. Auch nach dem Verlust des Depots würden die Verteidiger wohl weiterkämpfen, aber ohne Aussicht auf Erfolg. Wenn sie in der Kokerei im Norden und die Hochhäuser im Zentrum eingeschlossen werden, können die Ukrainer den Russen mangels schwerer Waffen kaum noch schaden, werden aber weiter zusammengeschossen.

Vor dem Einschluss

Für eine planmäßige Evakuierung auch der Verwundeten scheint es ohnehin zu spät. Die geschätzt 3000 Überlebenden könnten sich nur durch eine Flucht über die Felder in Sicherheit bringen. Aktuelle Videos zeigen, wie die Kraft zum Widerstand in der Stadt nachlässt. Im Süden haben die Russen eine Zone mit einfacher Bebauung besetzt. Dort können sich ihre Soldaten relativ frei und sorglos bewegen, abgeschirmt von eigenen Drohnen. Die Ukrainer können den umhereilenden Russen dagegen weder mit Drohnen noch Artillerie oder Mörsern bekämpfen. Im Norden der Stadt im Umfeld der Kokerei wurde ein russischer Trupp von einer einzelnen Drohne attackiert. Das Besondere hier: In der ganzen Zone scheint es keine ukrainischen Bodentruppen mehr zu geben, die das Einsickern der Russen verhindern können.

Für den Oberkommandierenden Syrskyj heißt das, dass die eingeschlossenen Truppen nicht in der Lage sein werden, die Russen wieder aus Awdijiwka herauszudrängen. Gegenangriffe würden ihre restliche Kraft übermäßig verschleißen. Sie können nur versuchen, die beiden Ankerpunkte möglichst lang zu halten. Die Situation wird durch den Mangel an Munition auf ukrainischer Seite weiter erschwert. Die Russen hingegen decken die Stadt mit allem ein, was sie haben. Artillerie, Mehrfachraketenwerfer, Cluster-Bomben und schwere Gleitbomben. In einer Nacht sollen sie fast 100 Bomben auf die Stadt geworfen haben.

Die Verteidiger werden das nicht endlos aushalten. Wenn Syrskyj die Stadt halten will, muss der Belagerungsring von außen aufgebrochen werden. Wegen der Zeitknappheit wird man nicht auf neue Truppen warten können. Syrskyj muss seine – vermutlich letzten - Reserven einsetzen. Die gibt es nach wie vor. Die amerikanischen Abrams-Panzer sind bislang noch gar nicht eingesetzt worden, und auch die Challenger II aus dem Vereinigten Königreich nur punktuell.

Vorhersehbarer Angriffspunkt

Das vielversprechendste Ziel ist der nördliche russische Umfassungsarm. Hier läuft die gesamte russische Versorgung durch den Ort Krasnohorska. Der russische Vorsprung kann von drei Seiten angegriffen werden. Der Angriff von mehreren Seiten ist bislang die einzige funktionierende Methode im Ukrainekrieg. Wenn die Russen Krasnohorivka aufgeben müssten, wäre die Stadt zum Norden hin frei. Danach könnte man versuchen, die große Abraumhalde östlich der Stadt und dann den südlichen Teil von Awdijiwka freizukämpfen.

So die Theorie, die den Russen auch bekannt ist. Entsprechend werden sie sich vorbereitet haben. Bei Krasnohorivka kontrollieren sie die Höhen, was einen Angriff erschwert. Solange die drückende Überlegenheit bei Bomben und Artillerie besteht, scheint ein Versuch aussichtslos. Dazu kommt, dass die Russen einen Weg gefunden haben sollen, das Starlink-System in Awdijiwka zu stören. Fotos zeigen sie beim Auspacken von originalen Starlink-Systemen. Das deutet darauf hin, dass die Russen das System in der Region nicht elektronisch stören, sondern durch Überlastung lähmen.

Die Russen packen Starlink aus.
Die Russen packen Starlink aus.
© Telegram

Nichts tun ist keine Option 

Interessant ist, dass Oleksandr Syrskyj ethnischer Russe ist und der größte Teil seiner Familie in Russland lebt. Seine Ausbildung erhielt er an der Moskauer Höheren Militärkommandoschule. Das ist aber lang her, in der Verteidigung von Kiew hat Syrskyj bewiesen, dass er die moderne, urbane, moderne Kriegsführung versteht und nicht an alte Denkmuster gebunden ist. Sein Versuch, in der Sommeroffensive Bachmut einzuschließen, war allerdings ein Desaster. Bei sehr schweren Verlusten bei Klischtschijiwka gelang es eben gerade, in die erste russische Linie einzubrechen.

Ein Gegenstoß bei Awdijiwka wird das Kriegsjahr 2024 entscheiden. Ein ukrainischer Erfolg würde Russlands Bemühungen massiv zurücksetzen und vor allem die Stimmung in der Ukraine heben. Ein verlustreicher Misserfolg würde die letzten Reserven Kiews erschöpfen. Am Boden werden die Ukrainer 2024 dann nicht die Initiative zurückgewinnen können.

Dass Syrskyj gar nichts macht, ist nicht zu erwarten. Dann hätte Selenskyj mit der Wachablösung gewartet und die Schmach dem Vorgänger überlassen.

Alle Ortsnamen folgen der Schreibweise von Google Maps.

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