Draht zum Quadrat. 13 Jahre lang hat Florian Römmer Aufsätze geschrieben, chemische Formeln und Vokabeln gepaukt. Und jetzt das: Vor ihm liegt ein Stück Draht, aus dem er mit einer Zange ein möglichst sauberes Viereck formen soll. Die Bastelei entscheidet mit darüber, ob er einen Studienplatz in Zahnmedizin bekommt.
Die Münchner Zahnmediziner lassen Metall biegen, die Karlsruher Geschichtswissenschaftler fragen fies, ob denn das Ende der Geschichte nicht längst gekommen sei, und die Heidelberger Juristen wollen wissen, ob eine gerade oder eine gewellte Linie "sympathischer" sei. Alles kein Abi-Stoff - und doch für die Zulassung zum Studium fast genauso wichtig wie das Abschlusszeugnis: Immer mehr Universitäten und Fachhochschulen prüfen Abiturienten mit Tests oder in Aufnahmegesprächen auf ihre Studieneignung und Motivation.
Die Professoren haben keine Lust mehr auf "Hops", "Lutta", "Marks"
Die deutschen Professoren trauen dem Abitur nicht mehr. Auf die Hochschulreife sei kein Verlass, klagen sie, das Gymnasium bereite Schüler nicht ausreichend auf das Studium vor. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft halten Professoren jeden dritten Abiturienten für "nicht studierfähig". "Die Generation Pisa sitzt jetzt in den Hörsälen", schimpft Dirk Kaesler, Soziologieprofessor an der Uni Marburg. Kaesler leidet, wenn er Klausuren korrigieren muss, in denen von "Hops", "Lutta" und "Marks" statt von Hobbes, Luther und Marx die Rede ist. Auf solchen Murks hat er keine Lust mehr: "Lieber jeden einzelnen Abiturienten auf seine Studientauglichkeit abklopfen, als sich mit Studenten herumzuschlagen, die das Wort Soziologie nicht mal richtig schreiben können."
Viele Gymnasiasten wissen nur wenig über die Inhalte einzelner Studiengänge. Während es etwa in den Niederlanden ein eigenes Schulfach "Laufbahnorientierung" gibt, bei dem die Schüler einen Studenten durch die Uni begleiten und sich in Vorlesungen setzen, hängt es in Deutschland meist vom Engagement der Lehrer ab, was Abiturienten übers Studium erfahren. Hans Jörg Jacobsen, Biologieprofessor an der Uni Hannover, erlebt immer wieder Studenten in seinen Vorlesungen, "die denken, Biologie sei das Streicheln von Gorillas im Nebel - und wenn man eine Mathe-Formel erwähnt, bekommen sie glasige Augen." Jeder Vierte bringt in Deutschland sein Studium nicht zu Ende - Enttäuschung über das gewählte Fach ist einer der Hauptgründe für den Abbruch. Ein guter Grund, Auswahlgespräche durchzuführen, findet Rosemarie Tracy, Anglistikprofessorin an der Universität Mannheim. "Wir wollen Menschen nicht länger auf den Abi-Schnitt reduzieren", sagt sie. "Auch jemand mit 1,0-Abitur bricht sein Studium ab, wenn es nicht zu ihm passt."
"Das Gespräch war meine einzige Chance"
Um die Studenten zu finden, die zu ihnen "passen", vergeben die Universitäten und Fachhochschulen in Baden-Württemberg vom nächsten Wintersemester an 90 Prozent aller Studienplätze in Numerus-clausus(NC)-Fächern selbst. In Bayern proben drei Hochschulen, darunter die TU und die LMU München, die Auswahl von Studenten. Auch in anderen Bundesländern basteln Professoren an neuen Verfahren. Und in den Fächern Pharmazie, Human-, Tier- und Zahnmedizin, Betriebswirtschaft, Biologie, Psychologie, in denen Abiturienten bisher von der ZVS (Zentralstelle zur Vergabe von Studienplätzen) nach Abiturnote oder Wartezeit auf die Hochschulen verteilt wurden, können die Unis ein knappes Viertel der Studenten selbst aussuchen. Ab dem Wintersemester 2004/2005 werden es bis zu 50 Prozent sein.
Jeannette Hensler bekam die Einladung zum Aufnahmegespräch für Medizin an der Berliner Humboldt-Universität, einen Tag nachdem die Absage der ZVS im Briefkasten lag. Die Brandenburgerin hat ein Abitur von 2,7 - zu schlecht für Medizin. "Das Gespräch war meine einzige Chance", sagt Jeannette. Sie war zwei Stunden vor ihrem Termin in der Uni. Aus dem Prüfungsraum stürzte ihr ein weinendes Mädchen entgegen. "Das war's", dachte Jeannette, "die nehmen mich auch auseinander." Als sie dann mit drei Professoren und einer Psychologin im Halbkreis saß, "ohne Tisch dazwischen, ganz schutzlos", war ihr Mund so trocken, dass sie kaum sprechen konnte. Die Prüfer stellten ihr Fragen zur Geschichte der Hochschule und zu ihrer Meinung zu Reformen in der Gesundheitspolitik. Jeannette antwortete leise und stockend. Als eine Professorin sie fragte, warum sie denn unbedingt Medizin studieren wolle, lockerte sich der Knoten in ihrer Kehle. Jeannette erzählte von der schweren Krankheit einer Verwandten, ihren Praktika in Krankenhäusern. Und sie sagte, dass sie Chirurgie und medizinische Forschung besonders interessierten. Zwei Wochen später hatte sie ihren Studienplatz.
Schöne neue Uni-Welt
"Eigentlich war das zum Schluss mehr ein Beratungsgespräch als eine Prüfung, auch ich konnte Fragen stellen und wusste am Ende besser, was mich im Studium erwartet", meint Jeannette. Sie glaubt, dass man mit solchen Aufnahmeverfahren jene herausfiltern könne, die Medizin "nur aus Prestigegründen oder wegen der Eltern studieren wollen". Florian Römmer, der ebenfalls den Test bestand und jetzt Zahnmedizinstudent ist, findet im Nachhinein sogar die Drahtbiegeprobe sinnvoll: "Im ersten Semester mussten wir so etwas dauernd machen. Wer zwei linke Hände hat, ist bei den Zahnmedizinern falsch."
Professoren an der TU München berichten, dass die Studenten bessere Leistungen erbrächten, seltener durch Prüfungen fielen und schneller studierten, seit die Universität ihre Leute selbst auswähle. Die Auswahl selbst sei erstaunlich leicht: "Wir in der Prüfungskommission hatten anfangs Angst, dass wir uns nicht einigen könnten, welche Bewerber wir gut finden. Aber das war dann überhaupt kein Problem", sagt Informatikprofessor Arndt Bode. Ein Bewerber, erinnert er sich, "hat seinen Zivildienst im Heim für behinderte Kinder verlängert, das fand ich toll, den haben wir genommen."
Aber wird ein Gutmensch auch ein guter Informatiker? Gerrick von Hoyningen-Huene, Juraprofessor in Heidelberg, hält nichts von Aufnahmegesprächen. Schließlich seien Professoren keine ausgebildeten Psychologen. "Da kommt doch gleich der Sympathieeffekt - mei, ist der nett!", spottet von Hoyningen-Huene. Doch wie findet man ihn dann, den idealen Studenten? Durch einen Eignungstest, unbestechlich und objektiv, glaubt von Hoyningen-Huene. So müssen Heidelberger Jurabewerber, deren Abi-Schnitt schlechter ist als 1,3 oder 1,4, zum zweistündigen Test antreten. Da sollen sie beispielsweise aus verschiedenen Linien, Quadraten, Kreisen die Form heraussuchen, die ihnen "sympathischer" ist. Wer durchbrochene Formen sehr viel häufiger "sympathisch" findet als regelmäßige, outet sich als flatteriger Typ, wenig "regeltreu", der sollte lieber nicht Jura studieren. Auch hochbegabte Bewerber sind verdächtig: "Extrem Intelligente sind eigenwillig, nicht führbar, die werden zu Bedenkenträgern. Wir sind ein Massenbetrieb, da können wir mit Spinnern nichts anfangen", sagt von Hoyningen-Huene. Der genormte Student, der sein Studium zack, zack durchzieht, ohne nach rechts und links zu schauen - schöne neue Uni-Welt.
Auf Abi und Aufnahmetests vorbereiten
Die Heidelberger Juristen schließen aus den Testergebnissen auf die Persönlichkeit der Bewerber - ein umstrittenes Verfahren. Der Bonner Testpsychologe Günter Trost findet Prüfungen aussagekräftiger, die gezielt Fähigkeiten abfragen, die man im Studium wirklich braucht: Trost hat gerade einen Test für die BWL-Fakultäten der baden-württembergischen Fachhochschulen entwickelt, bei denen etwa Sachfragen zu Wirtschaftstexten beantwortet und Tabellen interpretiert werden müssen.
Eines jedoch können auch die tollsten Tests nicht: Jedem Abiturienten, der studieren will, einen Platz garantieren. Jedes Wintersemester strömen rund 250.000 Studienanfänger an die Hochschulen. Das Gerangel um Fächer wie Medizin oder Psychologie, in denen bis zu sechs Bewerber auf einen Studienplatz kommen, und der Ansturm auf beliebte Unis wie die FU Berlin, wo bisher 80 Prozent der Studienplätze über einen Numerus clausus vergeben wurden, geht weiter. Nur die Hürden werden zahlreicher. Schüler müssen sich neben der Lernerei fürs Abitur nun auch über die Aufnahmebedingungen an den Unis informieren. Denn Hochschule ist nicht gleich Hochschule - das zeigt auch das Ranking von stern und CHE. Die einen bieten bessere Bedingungen für Praktiker, die anderen sind ein Paradies für Forscher. Fächer wie BWL kann man an der einen Universität mit mathematischem, an der anderen mit sozialwissenschaftlichem oder Sprachenschwerpunkt studieren. Darum läuft auch jedes Aufnahmeverfahren anders ab.
In den USA sind Studieneignungstests schon lange üblich
In Karlsruhe verlangen die Geistes- und Sozialwissenschaftler die Einsendung eines Motivationsschreibens, die Empfehlung eines Lehrers und einen Essay zu einem selbst gewählten Thema, bevor sie Bewerber zum Gespräch einladen. Im Fach Diplom-Anglistik an der Uni Mannheim werden Praktika und Auslandsaufenthalte mit Bonuspunkten belohnt. Anglistikprofessorin Rosemarie Tracy findet die Bewertung von Lebensläufen nicht immer einfach: "Was ist toller - ein Jahr als Au-pair in England oder ein Schuljahr in Australien?" Tracy gibt zu, dass der Druck auf Abiturienten durch die neuen Verfahren zunimmt: "Sie sollen nicht nur gute Noten haben, sondern neben der Schule noch Praktika machen, ins Ausland gehen, sich sozial engagieren und zwischen den Abi-Prüfungen möglichst brillante Essays für ihre Wunsch-Uni schreiben."
In den USA, wo Studieneignungstests schon lange üblich sind, ist ein ganzer Dienstleistungszweig rund um die Testvorbereitung entstanden: "College Counselors" beraten Schüler für teures Geld, raten zu Hilfsdiensten in Obdachlosenheimen, weil sich das im Lebenslauf gut macht, und verfassen mit ihnen Bewerbungsessays. Rosemarie Tracy hofft, dass es in Deutschland nicht so weit kommt. Sie selbst überprüft das Aufnahmeverfahren für Diplom-Anglistik regelmäßig: "Bei uns gibt es mittlerweile für Auslandsaufenthalte weniger Punkte, weil sich das viele nicht leisten können. Wir wollen nicht die Kinder Wohlhabender bevorzugen."
Das Abitur entscheidet über Karrieren
Bevorzugt werden jetzt schon all die, die von ihrer Schule gut auf das Studium vorbereitet werden. Die neuen Aufnahmeverfahren sind vor allem eine Aufforderung an die Gymnasien, das Abitur zu rehabilitieren. Weil es in Deutschland keine einheitlichen Leistungsstandards gibt, ist die Note als alleiniges Hochschuleintrittsbillett ungeeignet. Für dieselbe Klausur bekommt man hier eine Eins, dort eine Vier - je nachdem, in welchem Bundesland und auf welcher Schule sie geschrieben wurde. Doch statt aus dieser Erkenntnis der Pisa-Studie zu lernen, verharren die Bundesländer mit ihrer Schulpolitik in "kleinstaatlicher Kästelei", kritisiert Bildungsforscher Klaus Klemm von der Uni Duisburg-Essen.
Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn fordert regelmäßige bundesweite Leistungsvergleiche zwischen allen Schulklassen - so wie in Frankreich und Schweden, wo jeder im Laufe seiner Schulkarriere drei- bis viermal in bestimmten Kernkompetenzen geprüft wird. So können Gymnasiasten, Eltern und Lehrer sehen, wo die Schule steht und ob die Noten im Vergleich zu gut oder zu schlecht sind. Bildungsforscher Klemm, Mitglied im Beirat der Pisa-Studie, spricht sich dafür aus, Teile der Abituraufgaben zentral zu stellen: "Ein Zentral-Abi sorgt nicht automatisch für bessere Leistungen - aber es ist fairer. Es darf nicht sein, dass manche Klassen in Bremen in der Leistung um Jahre hinter bayerischen Klassen zurück sind, und es für gleiche Leistungen überall unterschiedliche Noten gibt. Schließlich entscheidet das Abitur über Karrieren." Denn komplett entwertet wird der Gymnasialabschluss durch die neuen Aufnahmeprüfungen an den Unis nicht. "An den meisten staatlichen Hochschulen muss die Abiturnote derzeit noch mit mindestens 51 Prozent in die Bewertung mit einfließen", so Arndt Bode von der TU München.
"Hauptsache, du hast den Wisch!"
Gute Abiturienten sind weiterhin im Vorteil, sie dürfen im Aufnahmegespräch auch mal patzen. Wer sehr schlechte Noten hat, muss sich ziemlich anstrengen, um das Ruder noch herumzureißen. Benedikt Fraunhofer hat es geschafft: Der 21-Jährige, der vor allem akuten Liebeskummer für sein miserables Abi von 3,5 verantwortlich macht, holte im Interview an der TU München so viele Punkte, dass er den Studienplatz in Informatik trotzdem erhielt. Sein Vater hatte also doch Recht, als er Benedikt wegen seiner schlechten Noten tröstete: "Hauptsache, du hast den Wisch!"