Es hat lange gedauert, doch vor wenigen Wochen schien Deutschland schließlich die zweite heftige Corona-Welle gebrochen zu haben. Die Infektionszahlen sanken bundesweit in nahezu allen Landkreisen, auch die täglich vermeldeten Todeszahlen gingen zurück. Einige Politiker träumten bereits von Lockerungen, von offenen Geschäften und Oster-Tourismus. Doch Merkel machte ihnen einen Strich durch die Rechnung, wieder einmal: Statt einer 50er-Inzidenz - also 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen - wurde die 35er-Marke zur neuen Messlatte.
Ein Schritt nach dem anderen, verhaltene Lockerungen, stets mit Vorsicht agieren - so kennt man Bundeskanzlerin Angela Merkel seit dem vorigen Frühjahr, als das Coronavirus Deutschland schon einmal in den Lockdown zwang und sie den Begriff "Öffnungsdiskussionssorgien" prägte. Nun sprach sie nach Angaben von Teilnehmern der CDU/CSU-Bundestagsfraktionssitzung ganz offen von einer "dritten Welle", die durch das Land rolle.
Die Kurven gehen in die falsche Richtung
Die Zahlen geben ihr recht, wenn auch noch auf niedrigem Niveau: Der Sieben-Tage-Schnitt der aktiven Coronafälle in Deutschland liegt seit sieben Tagen in Folge im Plus verglichen mit der Vorwoche. Zwölf Tage lang bewegte sich die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz in einem engen Korridor zwischen 56 und 61 Fällen je 100.000 Einwohner. Seit dieser Woche bricht sie immer weiter aus, von Freitag zu Samstag stieg die Inzidenz von 62,6 auf 63,8.
Die Aufwärtsbewegung verharrt auf niedrigem Niveau, aber sie verfestigt sich. Die aktuelle Dynamik ist vergleichbar mit der Situation Mitte September. Damals folgte ein rasantes Wachstum mit 30 Prozent Wachstum binnen zwei Wochen, vier Wochen später verlief die Kurve der Infektionszahlen beinahe senkrecht. Es war das jähe Ende des unbedarften Corona-Sommers. Womöglich steht Deutschland noch einmal dasselbe bevor, wenn keine entschiedenen Gegenmaßnahmen eingeleitet werden.
Mutationen treiben die dritte Welle
Angetrieben wird die dritte Welle Expertinnen und Experten zufolge von den Coronavirus-Mutationen, allen voran der britischen Variante mit der Bezeichnung B.1.1.7. "B.1.1.7 breitet sich rasch aus, ist deutlich ansteckender und gefährlicher - und zwar für alle Altersgruppen", erklärte RKI-Chef Lothar Wieler. "Wir sehen aktuell deutliche Signale einer Trendumkehr. Deshalb ist wichtig, dass wir jetzt die Maßnahmen umsetzen. Ansonsten steuern wir in eine weitere, dritte Welle."
Die Mutanten breiten sich regional sehr unterschiedlich aus. In Düsseldorf etwa ist die britische Virus-Mutation auf dem Vormarsch: Dort wird sie bereits bei jeder zweiten bestätigten Corona-Infektion nachgewiesen. Im größten Labor in Berlin ist vergangene Woche in 37 Prozent aller positiven Sars-Cov-2-Proben die B.1.1.7-Variante nachgewiesen worden. Bundesweit liegt der Wert derzeit bei etwa 30 Prozent.

"Die Lockerungen werden sich auswirken"
Der Saarbrücker Pharmazie-Professor Thorsten Lehr rechnet damit, dass die dritte Welle ähnlich heftig ausfallen könnte wie die zweite. "Ich gehe schon davon aus, dass wir wieder so Zustände wie vor Weihnachten bekommen werden", sagte der Experte für Corona-Prognosen gegenüber der Nachrichtenagentur DPA. In der ersten Aprilhälfte könnten wieder Sieben-Tage-Inzidenzen um 200 erreicht werden, mahnt er.
Dass die Mutanten in Deutschland die Oberhand gewinnen sei jedoch nur ein Faktor. Seit Februar sehe er wieder deutlich mehr Kontakte. "Ich befürchte, das hat ein bisschen was mit einer Lockdown-Müdigkeit zu tun. Und auch vielleicht mit einem Wiederanlaufen des normalen Lebens in gewissen Bereichen." Zum 1. März stehen weitere Öffnungen bevor: Bundesweit öffnen die Friseure, in einigen Regionen auch Baumärkte. Ab 8. März folgen in vielen Ländern weitere Lockerungen. "Auch wenn die Lockerungen moderat sind, werden sie sich auswirken."
Er schätzt das Plus an Kontakten auf 20 Prozent. "Und dann werden wir sehen, dass die Kombination aus Lockerungen mit der Mutante, die dann voll da ist, zu einem relativ starken Anstieg führt." Würde Deutschland seinen Kurs ohne Lockerungen beibehalten, würde Anfang April die 100er-Inzidenz erreicht werden, zeigen seine Berechnungen. So oder so: Die noch vor ein paar Wochen angestrebte bundesweit Inzidenz von 35 ist inzwischen in weite Ferne gerückt.
Impfungen kommen zu langsam
Ein kleiner Lichtblick, sollte die dritte Welle so heftig ausfallen wie von Lehr berechnet: Bewohner von Alten- und Pflegeheimen sind mittlerweile zu mehr als 80 Prozent mindestens einmal geimpft worden. Als Infektionsherde einer dritten Welle dürften sie damit weitgehend ausfallen.
Bundesweit dürften die Effekte der Impfungen allerdings nahezu verpuffen. Mehr als 95 Prozent der Bevölkerung sind noch nicht geimpft und haben nicht einmal einen Termin in Ausblick. Statistisch signifikante Auswirkungen erwartet Lehr, wenn etwa 30 Prozent der Bevölkerung geimpft wurden. Im besten Fall sei das im Juni erreicht, glaubt er. Auch von den Schnelltests erwartet er keine Trendumkehr.
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