Herr Hartmann, die Politik debattiert über eine Impfpflicht. Wird es Zeit, dass diese kommt?
Es ist erfreulich, dass nun auch die Politik zu der Einsicht gelangt, dass allein mit Aufklärung und Appellen die gefährlichen Masern nicht auszurotten sind. Wir als Kinder- und Jugendärzte haben seit Jahren weitergehende Schritte von der Politik gefordert, etwa ein nationales Impfkonzept und eine nationale Impfstrategie. Bisher hat die Politik diesem wichtigen Thema zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet.
In den USA gibt es wieder vermehrt Masernausbrüche, auch in Berlin sind Hunderte Menschen daran erkrankt, ein Kind ist gestorben. Sind die Masern zurück?
Sie waren nie ganz weg. Die Bundesregierung hat es sich bereits im Jahr 2010 als Ziel gesetzt, die Masern auszurotten. Aber sie hat nicht gehandelt. Deshalb haben wir nach wie vor ein Problem. 2015 gab es erneut das Ziel, die Masern auszurotten: In ganz Deutschland sollten, damit das gelingt, nicht mehr als 85 Erkrankungen auftreten - eine Zahl, die wir schon jetzt weit überschritten haben. Auch in diesem Jahr werden wir damit das von der Weltgesundheitsorganisation gesteckte Ziel nicht erreichen.
Woran liegt es, dass die Masern wieder ausbrechen?
Es gibt verschiedene Gründe. Zum einen leben wir in einer globalisierten Welt. Es reisen Menschen bei uns ein und mit ihnen Erreger. In Berlin sind die Masern in Flüchtlingsunterkünften ausgebrochen. Flüchtlinge kommen oftmals aus Gebieten, in denen Impfungen zur Vorsorge nicht gemacht werden oder schlicht nicht möglich sind. Wir sagen: Ihnen muss von Anfang an das Recht auf eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährt werden - zu ihrem und zum Schutz aller. Und dazu zählen auch Impfungen.
Ist das nicht der Fall?
Nein. Erst nachdem in mehreren Unterkünften die Erkrankungen unter Flüchtlingen ausgebrochen sind, hat die Politik gehandelt und veranlasst, dass geimpft wird. Das ist zu spät, es muss gleich nach der Aufnahme in solche Gemeinschaftsunterkünfte passieren.
Reisende und Flüchtlinge sind aber sicher nicht der einzige Grund, warum es nicht gelingt, die Masern auszurotten?
Manche Eltern verweigern ihren Kindern bewusst den Impfschutz. Damit gefährden sie nicht nur die eigenen Kinder, sondern auch andere. Zum Beispiel Babys, die noch zu jung für die Impfung sind. Aber sie bringen auch Kinder und Erwachsene in Gefahr, die ein schwaches Immunsystem haben - entweder seit der Geburt oder weil sie mit bestimmten Medikamenten behandelt werden, die das Immunsystem schwächen, etwa bei Leukämie. Sie können nicht geimpft werden und haben daher keinen Schutz. Stecken sie sich in öffentlichen Einrichtungen an, kann das tödlich enden.
Wenn ich mich oder meine Kinder nicht impfen lasse, ist es also nicht nur mein Problem?
Nein, es geht auch um Solidarität, um den Schutz aller. Masern sind eine ansteckende Krankheit, anders als etwa Tetanus. Ob ich mich gegen Wundstarrkrampf impfen lasse, ist aus meiner Sicht eine individuelle Entscheidung. Bei ansteckenden Krankheiten trägt der Einzelne auch eine Verantwortung gegenüber allen. Vor allem gegenüber denjenigen, die sich aus diversen Gründen nicht schützen können.
Warum unterschätzen Eltern die Masern immer noch?
Sie hören etwa von den Großeltern, dass diese die Masern auch ohne Impfstoff gut überstanden haben. Bei manchen setzt sich daher der Glauben fest, dass man die Krankheit nur einmal durchmachen müsste, dann wäre man schon geschützt. Das ist verantwortungslos, da die erwiesenen Komplikationen der Krankheit viel schlimmer sind als seltene Nebenwirkungen der Impfung.
Das Problem ist doch auch: Ein Impfschaden ist zwar extrem selten. Aber die Eltern, die es trifft, fragen sich natürlich auch, ob sie etwas falsch gemacht haben. Und solche sehr seltenen Einzelfälle geben Impfgegnern Nahrung.
Das Risiko für ein Kind, an Masern zu erkranken, ist höher als das für Komplikationen und die Krankheit ist weitaus gefährlicher als eine nachgewiesen sichere und wirkungsvolle Impfung. Das Fatale an Masern ist auch: Kleinkinder können die Erkrankung völlig unbeschadet überstanden haben, aber das Virus bleibt im Körper. Nach etlichen Jahren bis Jahrzehnten kann es wieder ausbrechen und zu einer Hirnhautentzündung führen. Daran sterben Kinder dann, da es keine Behandlung gibt. Wenn Eltern mit dem Nachwuchs auf sogenannte Masern-Partys gehen, ist das daher Kindesmisshandlung.
Aber Impfgegner sind ja keine dummen Menschen, vor allem in der Mittelschicht oder unter Akademikern ist die Skepsis verbreitet.
Das stimmt. Auch in Stadtteilen, in denen viele Bildungsbürger wohnen, sind die Durchimpfungsraten schlecht. Das Problem ist: Die Menschen informieren sich, doch zum Thema Impfen gibt es viele Quellen, vor allem im Internet, die die wissenschaftlichen Fakten verdrehen und damit Angst schüren. Und in Diskussionen wird Impfgegnern ein Stellenwert eingeräumt, der ihnen von der breiten Bevölkerung nicht zukommt. Maximal drei bis fünf Prozent der Bundesbürger sind Impfgegner, das ist wenig. Doch indem sie ihre Thesen verbreiten können, verunsichern sie andere.
Welche Thesen sind das?
Etwa dass in Impfstoffen Aluminiumsalze enthalten sind, gefährliches Quecksilber oder Reste von Antibiotika. Das ist Unsinn! Es gibt kein Quecksilber in Impfstoffen. In einigen Impfstoffen gibt es Spuren von Antibiotika aus dem Herstellungsprozess, die sind aber so gering, dass sie wirklich vernachlässigbar sind. Und Aluminiumsalze klingen vielleicht gefährlich, aber sie sind nur in Spuren in einigen Totimpfstoffen enthalten, hingegen in so vielen Dingen, die wir täglich benutzen. Wenn Sie etwa Speisen in Alufolie garen, nehmen sie viel mehr Aluminium auf, als sie jemals über einen Impfstoff abbekommen können. Da werden vermeintliche Gefahren aufgebauscht - und leichtfertig geglaubt. Kinder werden ja nicht täglich geimpft.
Geht eine Impfpflicht nicht zu weit?
Was würde aus Ihrer Sicht im Kampf gegen die Masern helfen?
Die Politik appelliert immer an das Verantwortungsgefühl der Eltern. Das reicht nicht. Wir brauchen eine Impfpflicht! Zwar werden wir keine generelle Pflicht durchsetzen können. Aber der Staat kann fordern, dass Kinder, die in überwiegend staatlich finanzierte Einrichtungen gehen, alle empfohlenen Impfungen haben müssen. Da Kitas und Schulen, auch die privaten, zu großen Teilen staatlich gefördert sind, würde das die meisten Kinder erreichen.
Klingt schwierig, jeder Mensch hat ja immerhin noch einen freien Willen. Und Eltern haben das Sorgerecht für ihre Kinder. Geht eine Impfpflicht nicht zu weit?
Das Argument, dass wir keine Impfpflicht einführen können, da dies ein Eingriff in das Elternrecht ist, überzeugt mich nicht im Geringsten. Jedes Kind hat laut Vereinten Nationen ein Grundrecht darauf, vor Erkrankungen geschützt zu werden, gegen die es wirksame Impfstoffe gibt. Das ist ein Grundrecht des Kindes. Eltern dürfen ihren Kindern diesen Schutz nicht vorenthalten. Dies verstößt gegen die Fürsorgepflicht der Eltern.
Bei Kindern haben sich laut Robert Koch Institut die Impfquoten seit 2000 erheblich verbessert. Bei der Masern-Erstimpfung liegen sie heute bei 96,7 Prozent, beim zweiten Piks bei 92,4 Prozent. Reicht das nicht?
Nein, wir brauchen 95 Prozent. Erst dann können wir davon sprechen, dass die Masern ausgerottet sind und es einen Schutz für alle gibt. Noch immer vergessen Eltern die zweite Masern-Impfung. Diese ist aber wichtig, da die Immunisierung sonst nicht vollständig ist.
Gibt es eine Generation, die besonders von einem fehlenden Impfschutz betroffen ist?
Ja, der Jahrgang ab 1970. Damals gab es nur einen Masern-Totimpfstoff, der nicht so gut wirksam ist. Lange wurde zudem empfohlen, sich nur einmal gegen Masern impfen zu lassen, heute weiß man, dass der Schutz dann nicht hundertprozentig ist. Erwachsene, die davon betroffen sind, sollten unbedingt die zweite Immunisierung nachholen.
Wann sollten Eltern ihre Kinder gegen Masern impfen lassen?
Die erste Impfung sollte spätestens mit der Vorsorgeuntersuchung U6 erfolgen - also mit einem Jahr. Die zweite Dosis kann nach vier Wochen gegeben werden, spätestens aber, wenn das Kind in eine Tageseinrichtung geht.
Welche Impfungen sollten Kinder auf jeden Fall bekommen?
Die am Robert Koch Institut angesiedelte Ständige Impfkommission listet die wichtigsten Impfempfehlungen auf. Gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken sollten Kinder etwa auf jeden Fall geimpft sein. Was vielen Eltern nicht bewusst ist: Auch Hepatitis B ist keine rein sexuell übertragbare Erkrankung, sie kann auch durch Wunden weitergeben werden. Kinder davor zu schützen, etwa als Teil der Sechsfachimpfung, ist daher durchaus sinnvoll, da Kinder in Kindertageseinrichtungen auch mit Kindern Kontakt haben, die ansteckende Hepatitis B-Viren vielfach bereits seit ihrer Geburt in sich tragen.