Dieser Text erschien erstmals am 21. Juni 2018 auf stern.de. Anlässlich der Bundestagsabstimmung über Organspende spielen wir ihn heute noch einmal.
In Deutschland herrscht Organmangel. Während viele Menschen ein Spenderorgan bräuchten, um zu überleben, gibt es zu wenige Spenderorgane. Laut dem aktuellen Jahresbericht der Deutschen Stiftung Organtransplantation wurden 2018 nur 3113 Organe postmortal gespendet. Von insgesamt 955 postmortalen Spendern. Auf der Warteliste standen Ende des Jahres aber 9.697 benötigte Organe.
Ich persönlich lebe nach der Devise: Wenn ich tot bin, ist es vorbei. Alles raus und ab in den Ofen. Wieso sollten meine Organe mit mir in die ewigen Jagdgründe gehen, wenn ich sie doch nicht mehr brauche? Wenn sie einer anderen Person das Leben schenken, einer anderen Familie ihren Vater, ihre Mutter, das Kind zurückgeben können? All das steht auch in meinem Organspendeausweis, den ich gewissenhaft in meinem Portemonnaie mit mir herumtrage.
Mein Bruder hat auch einen Organspendeausweis. Doch darauf steht, dass er im Falle des Hirntods nicht möchte, dass man ihm Organe entnimmt. Und auch, wenn ich das überhaupt nicht nachvollziehen kann, will ich es gerne verstehen. Deshalb habe ich ihn angerufen und das Gespräch aufgenommen. (Mit seinem Einverständnis, versteht sich.)
Was der Unterschied zwischen Seele und Geist, die Trauerarbeit der Familie und 100.000 Euro mit seiner Entscheidung zu tun haben, und was ein Experte zu unseren Thesen sagt, lest ihr hier im NEON-Zwiegespräch.
Organspende: Wieso muss noch ein Schmerzmittel gegeben werden, wenn ich doch schon tot sein soll?
Niko: Ich bin dagegen, dass bei mir nach dem Hirntod Organe entnommen werden, weil ich mir nicht sicher bin, dass das auch wirklich der richtige Tod ist. Meiner Meinung nach tritt der ein, wenn auch alle Organe nicht mehr richtig funktionieren. Und kein Blut mehr durch die Adern gepumpt wird. Und das Spannende, was ich herausgefunden habe ist, dass Hirntod auch in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Definitionen hat.
Das wird getestet, indem man starke Schmerzreize setzt. Also zum Beispiel eine Nadel durch die Nase schieben. Oder mit einem Apnoetest, wo derjenige nicht weiter beatmet wird und man testet, ob der Atemreflex einsetzt, wenn der CO2-Gehalt im Blut zu hoch wird. So ein Apnoetest kann zum Herzstillstand führen, dann wird man wiederbelebt, da ja sonst auch die Organe aussetzen. Das fänd ich auch nicht cool. Weil, wenn ich wirklich tot wäre, weil meine Organe auch nicht mehr mitmachen, dann würde ich auch gehen wollen.
Jule: Naja, aber bei der Wiederbelebung geht es ja nur um den Herzmuskel. Ein toter Muskel kann nicht mehr transplantiert werden.
Schon klar.
Also geht es dir um die Definition von tot und hirntot? Weil selbst ein spiritueller Mensch würde doch vermutlich argumentieren, dass die Seele in dem Moment futsch ist, in dem das Hirn aufhört, mitzuspielen.
Also, ich würde mich jetzt nicht als besonders spiritueller Mensch beschreiben, aber das sehe ich als den Unterschied zwischen Geist und Seele – weißt du?
Nicht wirklich. Erklär mal.
Der Geist sitzt meiner Meinung nach im Hirn und ist das, was dein Denken ausmacht. Und die Seele würde ich nochmal als etwas anderes bezeichnen.
Okay, aber die Seele ist ja dann wirklich eher ein spiritueller Gedanke. Und wenn du sagst, dass du gar nicht weiter spirituell bist und findest, dass der Geist in deinem Gehirn verankert ist, dann wäre die logische Schlussfolgerung doch eigentlich, dass du tot bist, in dem Moment, in dem das wegfällt – oder?
Ich bin mir aber eben nicht sicher, ob dann alles weg ist. In der Schweiz ist für Transplantation eine Vollnarkose vorgeschrieben. In Deutschland nicht. Es kann dann eben passieren, dass der Blutdruck stark ansteigt oder tatsächlich so reflexorische Abwehrbewegungen auftreten. Das würde ich jetzt mal auf Stress oder Schmerzen zurückführen. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation empfiehlt, dass während der Transplantation ein starkes Schmerzmittel verabreicht wird. Und dann frage ich mich: Wieso muss noch ein Schmerzmittel gegeben werden, wenn ich doch schon tot sein soll?
Das heißt, deine große Angst ist: Was, wenn ich noch gar nicht tot bin? Was, wenn ich eigentlich wieder aufwachen könnte und man mir Organe entnimmt, weil man sie braucht und ich aber noch gar nicht tot bin?
Nein. So nicht. Wenn man hirntot ist und das festgestellt wurde, dann ist das unumkehrlich. Das ist mir klar. Da werden keine Organe von Menschen entnommen, die noch eine Chance hätten, wieder aufzuwachen.
Aber bist du dann auch dagegen, dass man dir die Geräte abschaltet?
Nein, da bin ich für.
Aber...
Ich möchte einfach in Ruhe und Frieden sterben dürfen.
Wir haben auch schon mal über Handel mit Organen gesprochen…
Ich habe gelesen, dass an einer Lungentransplantation 100.000 Euro verdient werden.
Wer verdient das?
Ich denke mal das Krankenhaus. Ich meine, klar, die haben auch Kosten. Aber das Mindeste wäre doch, dass dann noch die Beerdigung bezahlt wird, für denjenigen, der gespendet hat. Fänd' ich eine sinnvolle Lösung.
Ich bin auch für eine Widerspruchsregelung. Das wird in anderen Ländern schon so praktiziert. Ich finde es gut, wenn man automatisch Organspender ist und einen Organspendeausweis braucht, wenn man das explizit nicht will.
Das heißt, wenn es das Gesetz in Deutschland geben würde, würdest du Einspruch erheben?
Genau. Dann kann jeder selbst entscheiden. Ich habe Zahlen gelesen, dass von den 70 Prozent die grundsätzlich für Organspende sind, nur etwa 30 Prozent einen Organspendeausweis haben.
Du möchtest gerne, dass die Familie sich verabschieden kann…
Ich finde die Vorstellung einfach schön, dass während ich sterbe, also auch, wenn ich schon hirntot bin, bis meine letzten Organe ausgesetzt haben, bis das Herz aufgehört hat, zu schlagen – dass mir da jemand die Hand hält. Wenn ich mir vorstelle, ich würde jemanden verlieren und derjenige hätte noch ein schlagendes Herz, wäre noch warm, würde wirken, als würde er nur schlafen – und dann wird er aus dem Zimmer gerollt und kommt wieder und man hat ihm die Augen entfernt und ihn aufgeschnitten. Das ist doch komisch.
Stell dir mal vor, ich würde jetzt aus irgendwelchen Gründen ein neues Herz brauchen. Ich liege im Krankenhaus und wenn ich innerhalb der nächsten zwei Jahre kein Herz bekomme, sterbe ich. Dann würdest du doch wollen – und ich frage jetzt spezifisch nicht für dich selbst, sondern für eine Person, die dir nahe steht –, dass für mich ein Spenderherz gefunden wird.
Ja, natürlich. Ich würde auch für mich selber, wenn ich ein Spenderorgan benötigen würde, eins wollen.
Aber findest du das nicht …
Ich sehe schon, dass das egoistisch ist. Das ist einfach das, was ich fühle.
Das heißt, du bist dir darüber im Klaren und freust dich einfach, dass andere Leute es anders sehen?
Ja. Auch, wenn in meinem näheren Umfeld jemand eine Niere bräuchte, oder eine Leber, würde ich das spenden. Dinge, die man nicht unbedingt braucht und abgeben kann. Das ist gar nicht mein Problem. Ich war früher häufig Blut spenden und bin auch als Stammzellspender eingetragen. Ich hoffe langfristig natürlich, dass die mit dem 3D-Druck weiter kommen und dann gar keine Notwendigkeit mehr besteht, einem Menschen ein Organ zu entnehmen.
War das schon immer so? Oder glaubst du, dass sich das vielleicht verändert hat, als die Möglichkeit deines eigenen Todes für dich für einen Moment wesentlich realistischer war? Denn du hattest ja 2016 eine Krebserkrankung.
Ne, ich glaube nicht. Ich hab schon seit sieben oder acht Jahren eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht. Ich habe mich mit dem Thema schon davor beschäftigt. Was aber sein kann, ist, dass ich seitdem Ärzten gegenüber kritischer geworden bin. Nicht, weil die mich schlecht behandelt hätten. Ich hatte ganz tolle Ärzte. Aber, was eben in unserem Gesundheitssystem passiert ist, dass alles generalisiert wird. Das ist logisch und gut. Aber für das Individuum nicht immer die beste Lösung. Zum Beispiel musste ich sehr dafür kämpfen, dass bei mir MRTs gemacht werden und keine CTs, weil ich mir nicht jedes Mal die volle Dröhnung radioaktive Strahlung geben wollte. Ich muss das vier Mal im Jahr machen. Wenn ich da jedes Mal ein CT mache, steigt die Chance, dass ich nochmal Krebs bekomme, einfach exponentiell an. Und die ist ja eh schon höher.
Ich glaube als Gesamtpopulation ist es total sinnvoll, dass alle Organspendeausweise haben. Dadurch geht es uns allen besser. Aber es gibt immer Individuen, bei denen die Dinge dann doch nicht nach Plan laufen. In den USA gab es da gerade einen Fall: Ärzte haben den ersten Test zum Hirntod gemacht und der sagte aus, dass das Kind hirntot sei. Also wurden die Eltern wegen Organspende angesprochen. Zwei Tage später wurde der zweite Test gemacht und das Kind war nicht hirntot und ist wieder aufgewacht. Das war auch Standardprozedur, aber ich finde den Gedanken schwierig, dass Ärzte, die natürlich in gewisser Weise abgestumpft sind, da an trauernde Familien herantreten, um zu fragen, ob sie der Person die Organe entnehmen dürfen.
Aber stell dir vor, ich hätte jetzt einen Autounfall. Und du weißt ja, wie ich dazu stehe: Alles raus. Glaubst du wirklich, dass es für dich in deiner Trauer einen Unterschied machen würde?
Das weiß ich nicht. Das kann ich so nicht beurteilen. Ich stelle es mir schwierig vor. Dieses Gefühl, dass der andere "nur schläft". Ich glaube, es würde mir helfen, den Tod zu realisieren, wenn ich sehe, wie das Herz aufhört zu schlagen. Hirntod ist für mich so ungreifbar.
Aber das sind ja alles temporäre Sachen. Ich frage jetzt spezifisch nach anderen Leuten, weil du den Tod der Familie ja angesprochen hast. Also natürlich ist das erstmal schwer zu greifen. Aber glaubst du nicht, dass die Zeit danach, in der du weißt, dass dieser Tod zumindest noch einer Menge Menschen geholfen hat, die Trauer irgendwie einfacher macht? Dass das nicht einfach nur weg ist, sondern in einem anderen Menschen drin? Und dem beim Weiterleben hilft?
Ich glaube, dafür sind mir andere Menschen zu unwichtig. Ich merke immer wieder, wie wenig mich Dinge berühren, zu denen ich keinen Bezug habe. Seien es die Anschläge in Paris oder Zugunglücke irgendwo in Deutschland. Dafür gibt es einfach zu viele Menschen.

Wir leben in so einer informationsüberfluteten Welt, wo ich kein Mitgefühl mehr mit allem und jedem haben kann. Ob ich nach meinem Ableben noch fünf Menschen helfen kann, oder ob ich garantiert habe, dass ich in Frieden sterben kann – dann nehme ich in Kauf, dass ich diesen Menschen nicht helfen kann, aber dafür fünf Stunden länger meine Ruhe habe. Das ist eine wirklich egoistische Sicht auf die Welt, aber ja…
Mhm. Also ich glaube, dass wir uns der Sache niemals einig werden. Aber wenn du mir versprichst, dass du die Ärzte an meine Organe lässt, bleibe ich so lange an deinem Bett sitzen, bis alles vorbei ist.