Am gestrigen Sonntag war es soweit: In Deutschland und vielen weiteren Ländern Europas wurde mit den Impfungen gegen Corona begonnen. Senioren und medizinisches Personal erhielten zumeist die ersten Spritzen. Der Impfstart mache "Hoffnung und gibt Zuversicht", sagte etwa Gesundheitsminister Jens Spahn.
Doch bis die Pandemie überwunden ist, wird es noch dauern. Denn zunächst steht nur eine eingeschränkte Menge an Impfstoff zur Verfügung. Es wird sich noch über Monate hinziehen, bis so viele Menschen geimpft sind, dass man von einer Herdenimmunität sprechen kann. Dafür müssten allein hierzulande ungefähr 60 Millionen Menschen geimpft sein.
Impfstoffe bringen erst Ende 2021 die Wende
Angesichts der anhaltend hohen täglichen Infektionszahlen, der teils bereits überlasteten Krankenhäuser und der zuletzt ursprünglich in Großbritannien aufgetauchten Virusmutation fordern führende Virolog*innen nun ein einheitliches Vorgehen in Europa. Im Fachjournal "The Lancet" wurde ein Statement von mehr als 300 Wissenschaftler*innen veröffentlicht, zu den Unterstützer*innen zählen unter anderem die Physikerin und Viola Priesemann und die Genfer Virologin Isabella Eckerle.
"In ganz Europa verursacht die Covid-19-Pandemie zu viele Todesfälle, sie belastet die Gesellschaften und Gesundheitssysteme und schadet der Wirtschaft. Die europäischen Regierungen müssen noch eine gemeinsame Vision entwickeln, um den Umgang mit der Pandemie zu steuern", heißt es in dem Statement. Die Zahlen würden klar belegen, dass nicht nur die öffentliche Gesundheit, sondern auch die Gesellschaft und die Wirtschaft stark davon profitieren, wenn die Zahl der Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 reduziert werden. "Impfstoffe werden helfen, das Virus zu kontrollieren, aber erst Ende 2021." Sprich: Der Handlungsbedarf ist jetzt am größten.
Europaweiter Lockdown
Eine unmittelbare Lösung sei ein europaweiter, gleichzeitiger Lockdown, wie die Virologin Eckerle im Gespräch mit der "Neuen Zürcher Zeitung" ausführt. Dazu gibt es keine Alternative, um die Inzidenzen in allen Nationen zu drücken, schreiben die Expert*innen im Positionspapier bei "The Lancet": "Bei offenen Grenzen in Europa kann ein einzelnes Land allein die Zahl der Covid-19-Fälle nicht niedrig halten; gemeinsames Handeln und gemeinsame Ziele zwischen den Ländern sind daher unerlässlich. Wir fordern daher eine starke, koordinierte europäische Antwort und klar definierte Ziele für die mittlere und lange Zukunft. Das Erreichen und Aufrechterhalten niedriger Fallzahlen sollte aus den folgenden Gründen das gemeinsame, gesamteuropäische Ziel sein."
Weiter heißt es: "Um einen Ping-Pong-Effekt durch Import und Reimport von Infektionen […] zu vermeiden, sollte die Reduzierung in allen europäischen Ländern synchronisiert werden und so schnell wie möglich beginnen. Diese Gleichzeitigkeit wird es ermöglichen, dass die europäischen Grenzen offen bleiben."
Eckerle betont auf Twitter, es gehe nicht primär um einen Lockdown, "es geht um eine europäische Gesamtstrategie mit einem Ziel danach."
"10 Covid-Fälle je Million Menschen"
Doch wie niedrig sollen die Fallzahlen sein? Die hierzulande relevante Grenze von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen hält die Wissenschaft für zu hoch. "Streben Sie ein Ziel von nicht mehr als zehn neuen Covid-19-Fällen pro Million Menschen pro Tag an", so die Forderung der Wissenschaftler*innen an die Politik. "Dieses Ziel wurde in vielen Ländern bereits erreicht und kann spätestens im Frühjahr 2021 europaweit wieder erreicht werden." Nötig seien dafür jedoch rasche, harte Maßnahmen.
In ihrem Statement betonen die Wissenschaftler*innen erneut, dass es aus ihrer Sicht keine sinnvolle Alternative zu diesem Vorgehen gibt. So sei es "keine Option, eine natürlich erworbene Immunität der Bevölkerung anzustreben. Die schwere Belastung in Bezug auf Morbidität und Mortalität, die sich auch in der aktuellen Übersterblichkeit widerspiegelt, und die ungewisse Dauer der Immunität sollten von diesem Ansatz dringend abraten."
Quellen:NZZ, Twitter, The Lancet, Max-Planck-Gesellschaft