Erschienen in GEO 5/2004
Jan Lublinski
Geboren 1968, ist freier Wissenschaftsjournalist in Köln. Er moderiert die Sendung "Mensch, Umwelt, Technik" im Hörfunkprogramm der Deutschen Welle, ist als Feature-Autor für verschiedene ARD-Sender tätig und schreibt für BILD DER WISSENSCHAFT und GEO. Als Student hat er sich mit Physik und Kommunikationswissenschaft befasst und sein journalistisches Handwerk in der Lokalredaktion der FRANKFURTER RUNDSCHAU erlernt. Er hat für die Wissenschaftsseiten der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG gearbeitet und beim Sender Freies Berlin volontiert.
Die Jagd nach der Dunklen Materie
Mit atemraubender Geschwindigkeit wirbelt eine Galaxie durch das All. Sie müsste zerstieben, wenn da nicht eine unsichtbare Substanz wäre, die sie zusammenhält. Die Natur dieser Dunklen Materie ist eines der fundamentalen Rätsel der Kosmologie. Es fordert die Himmelsforscher heraus wie kaum ein anderes. Mit gewaltigen Geräten versuchen sie dem mysteriösen Stoff auf die Spur zu kommen. Sie gehen dazu unter die Erde, auf den Meeresgrund und ins Eis der Antarktis
WENN MAN Matthias Bartelmann fragt, woran er gerade arbeitet, klappt er seinen Laptop auf und startet ein kleines Universum: Auf dem Monitor formt sich eine rote Kugel aus diffusem Gas, in der Simulation viele Millionen Grad heiß. Von unsichtbarer Hand dirigiert, zieht sich die Materie zu Wolken zusammen und driftet ins Zentrum der Kugel. Immer stärker verdichtet sich das Gas, ballt sich schließlich zu Galaxien zusammen. Eine Art kosmischer Schaum entsteht: Auf den Wänden der Blasen sitzen Sterneninseln; an den Berührungspunkten der Wände konzentriert sich in Galaxienhaufen enorm viel Materie - eine Struktur, wie Astronomen sie in den Tiefen des Alls tatsächlich erspäht haben. Für das virtuelle Universum hat Bartelmann, Astrophysiker an der Universität Heidelberg, einiges zusammengerührt: eine Portion Raum, ein Pfund Materie und eine Prise Strahlung. Das Wichtigste im Rezept ist allerdings die Dunkle Materie. Eine Zutat, deren Name schon ihre mysteriöse Natur ausdrückt. Aber "ohne sie gelingt gar nichts", sagt Bartelmann. Ohne Dunkle Materie hätten sich keine Galaxien, keine Sterne, keine Planeten gebildet; ohne Dunkle Materie würde kein Homo sapiens über die Erde stapfen. Damit das Universum zu dem wurde, was es ist, war ein ordentlicher Batzen dieser geheimnisvollen Zutat nötig. Aus Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung, einer Art Nachhall des Urknalls, haben Kosmologen errechnet, dass Dunkle Materie etwa 23 Prozent des kosmischen Inventars ausmacht. 73 Prozent stellt eine ebenso mysteriöse Dunkle Energie, die das All auseinander treibt wie die Hefe einen Kuchenteig. Bescheidene vier Prozent unserer Welt bestehen aus dem, was wir uns gemeinhin unter Materie vorstellen: aus Substanzen wie Wasserstoff und Helium, Eisen und Quarz. Und wiederum nur ein Zehntel davon sendet Licht aus. Eine irritierende Vorstellung: Das scheinbar unendliche Gefunkel am Nachthimmel ist nur ein vordergründiger Zauber; Sterne und Galaxien sind lediglich Schaumkronen auf einem gigantischen dunklen Ozean. Die Dunkle Materie ist eines der fundamentalen Rätsel der Kosmologie. Und es treibt die Himmelsforscher derzeit um wie kaum ein anderes. Sie richten scharfäugige Teleskope auf den Himmel und installieren hypersensible Messsonden tief im Erdinneren. Sie wollen die rätselhafte Materie zu fassen bekommen, die dunkle Seite des Universums beleuchten. Dabei ist ihnen klar, so David Cline von der University of California in Los Angeles, dass diese Jagd "zu den schwierigsten Experimenten zählt, die Physiker jemals in Angriff genommen haben". Eine enorme Herausforderung, aber auch eine, deren Bewältigung einen Platz in der Ruhmeshalle der Wissenschaft verspricht.
DAS THEATER UM die Dunkle Materie begann 1933. Fritz Zwicky, Astrophysiker am California Institute of Technology in Pasadena, beobachtete eine Ansammlung von Galaxien, den so genannten Coma Cluster. Nachdem er die Massen der Sterneninseln abgeschätzt und ihre Geschwindigkeiten gemessen hatte, kam er zu dem Schluss, dass die einzelnen Galaxien mit viel zu hohem Tempo unterwegs waren. Die Anziehungskraft ihrer sichtbaren Massen reichte nicht aus, um die Fliehkräfte zu kompensieren und den Galaxienhaufen zusammenzuhalten. Zwicky folgerte daraus, im Universum seien große Mengen unsichtbarer Materie versteckt. Da der Mann ein eigenwilliger Kauz war, machte sich niemand die Mühe, der Sache weiter nachzugehen. Seine Kollegen hielten die Dunkle Materie, wie er sie nannte, nur für eine weitere Eskapade des Professors. Aber Anfang der 1970er Jahre bekam Zwickys These neuen Auftrieb. Astronomen fiel auf, dass Sterne und Gaswolken am Rand von Spiralgalaxien wie der Milchstraße scheinbar viel zu schnell rotierten. Sie müssten davonfliegen wie der vom Werfer losgelassene Diskus - es sei denn, es gäbe eine unsichtbare Materie, deren gewaltige Schwerkraft die Sterneninseln zusammenschweißt. Inzwischen akzeptieren fast alle Himmelsforscher die Existenz der Schattensubstanz. Seit jüngster Zeit versuchen sie gar genauer herauszufinden, wo diese steckt. Sie wollen eine Art Atlas der Dunk-len Materie erstellen. Dazu bedienen sie sich des so genannten Gravitationslinseneffekts: Laut Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie lenken kosmische Massen dicht vorbeifliegendes Licht ab - sie wirken aufgrund ihrer Gravitation wie eine Linse. Um die Verteilung von sichtbarer und Dunkler Materie zu prüfen, stellt Matthias Bartelmann in Computersimulationen Aufnahmen entfernter Galaxien hinter riesige Galaxienhaufen. Diese verzerren die Erscheinung der fernen Sterneninseln zu Strichen, Bögen und Ringen. Unterschiedliche Masseverteilungen erzeugen unterschiedliche Linseneffekte. Durch Vergleich der Simulationen mit realen Himmelsbildern kann der Astrophysiker ableiten, wo der geheimnisvolle Stoff sich ballt. Doch solchermaßen die Existenz der Dunklen Materie zu untermauern und das verborgene Universum zu kartieren, sind das eine. Die wichtigere Frage, der Kosmologen und Physiker nachgehen, heißt: Woraus besteht das geheimnisvolle Medium überhaupt? Welche Substanz bildet das mächtige Rückgrat der kosmischen Strukturen?
AN ERKLÄRUNGSVERSUCHEN mangelt es nicht. Einige Forscher tippten auf "Machos", Massive Compact Halo Objects, Himmelskörper aus gewöhnlicher Materie, die aber so schwach leuchten, dass sie für uns unsichtbar bleiben: weit entfernte Planeten, Kometen, erloschene Sterne, Schwarze Löcher. Nach einer Schätzung kamen Astronomen indes zum Ergebnis, dass die kompakten Objekte nicht allzu viel hergeben. Sie bilden lediglich einen kleinen Teil der unsichtbaren Masse im Universum. Machos spielen, wie sich herausstellte, noch aus einem anderen Grund eine untergeordnete Rolle: Der Löwenanteil der Dunklen Materie tritt nicht "geklumpt" auf, wie die Astronomen sagen, sondern ist gleichmäßig in Galaxien und Galaxienhaufen verteilt. Somit können dahinter nur Elementarteilchen stecken, die prinzipiell unsichtbar sind. Als heißeste Kandidaten für den Dunkelstoff galten zunächst Neutrinos. Sie entstehen bei Kernreaktionen in Atomkraftwerken und im Innern der Sonne. Von unserem Zentralgestirn kommen pro Sekunde 100 Milliarden der Geisterteilchen auf jedem Quadratzentimeter Erdoberfläche an - und keiner merkt etwas davon. Denn sie sind elektrisch neutral, treten kaum mit Materie in Wechselwirkung und wehen deshalb durch unseren Planeten hindurch wie ein Windstoß durch einen Maschendraht.
DABEI WAR LANGE UNKLAR, ob Neutrinos überhaupt etwas wiegen. Dieser Nachweis gelang endlich 1998; allerdings konnten die Forscher nur die Massedifferenzen verschiedener Neutrino-Varianten bestimmen und keinen absoluten Wert. Dennoch spricht vieles dafür, dass die flüchtigen Geister nicht allzu viel auf die Waage bringen und ihr Anteil am Universum gering ist - die Schätzungen schwanken zwischen 0,1 und sechs Prozent. Gegen die Neutrinos als "Substanz" der Dunklen Materie spricht, das mussten die Astrophysiker einsehen, ein weiteres Argument: Sie sind zu heiß. Sie jagen mit so hohen Geschwindigkeiten durch das All, dass sie nie Verdichtungen bilden könnten - die aber wären in der Anfangszeit des Universums als Kristallisationspunkte für größere Strukturen nötig gewesen. "Unsere Computersimulationen haben gezeigt, dass mit Neutrinos allein dem Universum nicht genug Zeit geblieben wäre, um Galaxien zu formen", erklärt Simon White vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching. In den Fokus der Dunkle-Materie-Jäger sind deshalb "kalte" Elementarteilchen geraten. Obwohl rein hypothetisch, haben sie bereits einen Namen: "Wimps" - Weakly Interacting Massive Particles. Und nomen est omen: Sie sollen sich etwas träger bewegen als Neutrinos, sonst aber ebenso elektrisch neutral und unsichtbar sein, vor allem aber extrem kollisionsscheu. Ungebremst passieren sie gewaltige Gebirgsmassive, die uns als Inbegriff der Undurchdringlichkeit gelten - obwohl sich, genau besehen, in deren Atomen zwischen dem Kern und den ihn umkreisenden Elektronen viel leerer Raum auftut. In jeder Sekunde, so postulieren Forscher, strömen etwa eine Milliarde Wimps durch einen Menschen hindurch. Und Kollisionen sind dabei so rar, dass es mehrere Tage dauert, bis einer einen Atomkern anschubst und dann seine Reise durchs All fortsetzt. Auf diese extrem seltenen Treffer haben es verschiedene Wissenschaftlerteams weltweit abgesehen. Da aus dem Kosmos noch andere Partikel auf die Erde einstürzen, wie Elektronen und Wasserstoffkerne, und den Nachweis der hypothetischen Teilchen erschweren, haben die Forscher sich tief in den Bergen vergraben - in alten Minen und Autobahntunnels. Die sich darüber auftürmenden Felsmassen schirmen das Störfeuer ab.
GABRIEL CHARDIN IST fassungslos. Eigentlich müsste er losbrüllen. Aber seine Stimme wird leise und eindringlich: "Was soll das?" Seine Kollegen, Techniker und Physiker von der Universität Lyon, schauen betreten auf den Schmutz am Boden. Sie stehen in einer Lagerhalle am Rand von Modane, einer Stadt in den französischen Alpen östlich von Grenoble. Auf zwei Dutzend Paletten liegen hier die Einzelteile von "Edelweiß II", dem Dunkle-MaterieExperiment der nächsten Generation. Es soll in den kommenden Monaten im Frejus-Berg aufgebaut werden und dann nach Wimps Ausschau halten. "Wir hatten nur zwei Tage Zeit, eine Halle zu finden", antwortet schließlich einer. Chardin schüttelt den Kopf und deutet in eine Ecke, wo seine Kollegen bereits begonnen haben, einige Metallträger probeweise zusammenzusetzen: "Das könnt ihr vergessen." Eigentlich muss er ihnen nicht erklären, dass jedes Staubkorn, das in die Nähe des Detektors gelangt, für Störsignale sorgt. Dass er deshalb jahrelang um das Geld für einen Reinraum mit Bedingungen wie in der Chip-Fertigung gekämpft hat. Dass sie sich in Sachen Sauberkeit keinerlei Kompromisse leisten können. Mit seiner großen runden Brille sieht Chardin ein wenig aus wie ein Student, der stets in der ersten Hörsaalreihe Platz nimmt. Aber er ist le responsable, der Verantwortliche des Projektes. Mit einem Team von nur zehn Mitarbeitern hat er Edelweiß zu einem der besten Dunkle-Materie-Experiment weltweit gemacht. Nun hat er endlich die Mittel bewilligt bekommen für das große Folgeprojekt Edelweiß II, an dem sich weitere 30 Wissenschaftler beteiligen können. Seine Autorität schöpft der Physiker vom Forschungszentrum CEA in Saclay bei Paris aus seiner Kompetenz: Er ist Manager, Ingenieur, Computerexperte und Professor für Theoretische Physik in einem. Zu Hause verzichtet er auf einen Fernseher, in seiner wenigen Freizeit hört er Musik und denkt über eine neue Elementarteilchentheorie nach, die eine Erklärung auch für die geheimnisvolle Dunkle Energie liefern könnte.
AUF DEM WEG in das Untergrundlabor im Frejus-Berg ziehen sich Chardin und Kollegen signalrote Schürzen über, wie sie auch die Betriebsmannschaften in dem 13 Kilometer langen Autobahn-Tunnel zwischen Frankreich und Italien tragen. In einem rot-weiß-gestreiften Kleintransporter mit Gelblicht auf dem Dach fahren sie Richtung Turin in die Straßenröhre. Unterwegs erinnert eine Frauenstimme aus dem Radio den Fahrer auf Italienisch und Französisch unablässig daran, nicht schneller als 70 km/h zu fahren und ausreichend Abstand zu halten; eine Sicherheitsmaßnahme seit dem Brand im Mont-Blanc-Tunnel im März 1999. Auf halber Strecke stoppt der Transporter in einer kleinen Parkbucht. Die Wissenschaftler lassen eine Lastwagen-Kolonne aus der Gegenrichtung vorbeidonnern, dann laufen sie auf Kommando auf die andere Straßenseite. Aus einem unauffälligen Metalltor bläst ihnen kalte Laborluft ins Gesicht. Die Experimentierhalle - quer zur Autobahn in den Fels geschnitten - wölbt sich wie das Längsschiff einer romanischen Dorfkirche. Gleich nach Ankunft versammeln sich die Wissenschaftler in einem engen Aufenthaltsraum vor einer Regal-wand voller Wasserflaschen. "Wir müssen ständig trinken", sagt einer und reicht Plastikbecher herum. "Die Luft ist hier extrem trocken." Bis die Einzelteile für den neuen Versuchsaufbau aus der Lagerhalle ins Untergrundlabor gebracht werden, läuft noch das alte Edelweiß-Experiment weiter. Der Detektor für Dunkle Materie befindet sich in einer fahrstuhlgroßen, weißen Kiste mit Schutzwänden aus Paraffin und Blei. Darin steckt ein tonnenförmiger Spezialkühlschrank, in dem wie in einer russischen Puppe vier verschiedene Kühlsysteme ineinander geschachtelt sind. Im Innersten herrscht eine Temperatur von minus 273,14 Grad Celsius, also 0,01 Grad über dem absoluten Nullpunkt. Das Herz des Experiments besteht aus drei Germanium-Kristallen, jeweils so groß wie ein Eishockey-Puck und etwa 300 Gramm schwer. Für einen Nachweis der Geisterteilchen setzen die Wissenschaftler auf folgende Überlegung: Reagiert ein Wimp mit einem der Germanium-Atomkerne, so beginnt der Kristall zu schwingen, und ein Sensor misst eine geringfügige Temperaturerhöhung. Um diese überhaupt erkennen zu können, muss die Apparatur bis nahe an den absoluten Nullpunkt gekühlt werden. Gleichzeitig registriert ein Messgerät eine kleine elektrische Ladungsverschiebung, die daher rührt, dass der Einschlag die Elektronen im Kristall durchrüttelt.
DIE POTENZIELLEN Wimp-Signale stecken dabei wie Nadeln in einem gigantischen Heuhaufen aus falschen Spuren. Gabriel Chardin kämpft vor allem gegen die natürliche radioaktive Strahlung, die aus dem Gestein des Berges stammt wie auch aus dem Detektor selbst. In jedem Schweißtropfen, jedem Staubkorn und jeder Lötstelle im Kühlsystem verbergen sich Atomkerne, die zerfallen können. Selbst in den ultrareinen Germanium-Kristallen findet Chardin noch Reste von Radioaktivität. Zum Glück erzeugen der Aufprall der unerwünschten Teilchen und jener der Wimps charakteristische Muster der Temperaturerhöhung und Ladungsverschiebung. So können die Wissenschaftler die Einschläge auseinander halten. Aber es genügt nicht, die Störeffekte zu reduzieren. Es kommt zugleich darauf an, möglichst viel Germanium in das Experiment zu integrieren. Je größer die Masse der Kristall-Fallen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, einen Wimp zu fangen. Im Edelweiß-II-Detektor wollen die Franzosen mehr als 30 Kilogramm Germanium unterbringen. Die neuen Apparaturen werden den verbleibenden Raum im hinteren Teil des Untergrundlabors komplett ausfüllen. Bevor es aber so weit ist, müssen die Wissenschaftler eine Umbaupause von einem Jahr einlegen. "In dieser Zeit wird unsere Konkurrenz versuchen, uns zu überholen", dessen ist sich Gabriel Chardin bewusst. Zu den Konkurrenten zählen auch deutsche Physiker, die im Gran-Sasso-Massiv in den italienischen Abruzzen arbeiten. Sie erreichten mit ihrem Experiment "Cresst" II im vergangenen Jahr fast die Messgenauigkeit von Edelweiß I. Ihr Detektor der zweiten Generation steht bereits als ausbaufähige Version im Untergrundlabor. Die Deutschen werden nach einem Umbau voraussichtlich im Herbst 2004 wieder mit der Wimp-Suche beginnen können und dann das Kristallgewicht schrittweise auf zehn Kilogramm erhöhen. "Wir kommen gut voran", sagt Wolfgang Rau, Physiker von der Technischen Universität München.
WER HYPOTHETISCHE Teilchen jagt, seine ganze Arbeitskraft einem Unternehmen mit ungewissem Ausgang widmet, muss von seiner Mission überzeugt sein. Er muss seinen Ideen und Intuitionen manchmal kompromisslos folgen. Aber zugleich muss er sich selbst immer wieder in Frage stellen und damit rechnen, dass Messungen das Gegenteil des Erwarteten ergeben. Eine Herausforderung, die manch einen überfordert. So etwa die Physikerin Rita Bernabei von der Universität Rom. Sie behauptet seit 1998 unverdrossen, sie habe die Dunkle Materie nachgewiesen. Das "Dama"-Experiment, das sie leitet und das ebenfalls im Gran-Sasso-Massiv steht, hat jahreszeitlich schwankende Signale gemessen. Bernabei und ihre Kollegen sind davon überzeugt, dass sie eine Art galaktischen Wind aus Dunkler Materie aufgespürt haben: Auf ihrer Bahn um die Sonne fliegt die Erde im Nordsommer in derselben Richtung, in der auch das gesamte Sonnensystem innerhalb der Milchstraße unterwegs ist. Im Winter bewegt sie sich entgegengesetzt. Die Geschwindigkeiten addieren beziehungsweise subtrahieren sich jeweils, und weil praktisch die Dunkle Materie in der Galaxie ruht, so argumentieren die italienischen Forscher, müssten uns im Sommer deutlich mehr Wimps ins Gesicht wehen als im Winter. Im Juni 2003 hält Rita Bernabei bei einer Tagung auf Schloss Ringberg am Tegernsee einen Vortrag. Sie wirkt gehetzt, legt viele bunte Folien mit Kleingedrucktem auf, ihre Brille rutscht ihr immer wieder auf die Nasenspitze, und sie spricht so schnell, dass es nahezu unmöglich ist, ihrer Argumentation zu folgen. In der anschließenden Diskussion wirkt sie wie eine strenge Lehrerin, die keinen Widerspruch ihrer Schüler duldet. Mit Journalisten redet Bernabei nicht mehr. Noch im Jahr 2000 hatte sie in Interviews ausführlich dargelegt, ihr sei der große Coup gelungen. Bald darauf hatten Physiker des Edelweiß-Experiments und ein amerikanisches Team ähnlich sensible Messungen vorgenommen und keine Signale gesehen. Auf einer Tagung im kalifornischen Marina del Rey geriet die italienische Gruppe dann ins Kreuzfeuer.
INZWISCHEN WIDERFÄHRT Rita Bernabei Schlimmeres als nur kollegiale Kritik: Sie wird von vielen schlicht nicht mehr ernst genommen. Zwar hat sie nach einer langen Publikationspause im Sommer 2003 neue Daten vorgelegt, welche die saisonalen Schwankungen über drei weitere Jahre bestätigen. Aber die meisten Astrophysiker gehen inzwischen davon aus, dass der Dama-Detektor keine Wimps, sondern irgendeinen dubiosen Hintergrund- oder Störeffekt misst. Auf ihrer Homepage zitiert Bernabei den Literatur-Nobelpreisträger Rudyard Kipling: "Wenn du es ertragen kannst, die Wahrheit, die du ausgesprochen hast, verdreht zu hören von Schurken, die daraus eine Falle für Narren machen, dann bist du ein Mann, mein Sohn." Aus der Perspektive der Forscherin gönnt ihr die scientific community einfach nicht den Erfolg. "Es ist wie mit dem Monster von Loch Ness", erklärt Blas Cabrera von der Stanford University in Kalifornien. "Man braucht sehr viele, sehr gute Daten, wenn man andere davon überzeugen will, dass es existiert." Cabrera selbst stand, wie es zunächst aussah, auch schon einmal kurz vor dem ganz großen Erfolg. 1982 schien er einen magnetischen Monopol nachgewiesen zu haben. Dieses hypothetische Elementarteilchen soll der Ursprung magnetischer Felder sein, so wie elektrische Ladungen die Quelle elektrischer Felder sind, und galt damals als vielversprechender Anwärter für die Dunkle Materie. Cabrera setzte alles daran, die Messung zu reproduzieren. Vergebens. Acht Jahre und drei Gerätegenerationen später gab er auf. Es war inzwischen wahrscheinlicher geworden, dass die viel versprechenden Signale durch einen Störeffekt in der Apparatur zustande gekommen waren. Die Kosmologen glaubten nun außerdem, die Monopole seien extrem selten und damit kaum nachweisbar, und wandten sich anderen Hypothesen zu. Cabreras dunkle Haare sind inzwischen ergraut, aber er ist noch immer auf der Jagd nach der Dunklen Materie. Zurzeit arbeitet er mit an dem Experiment CDMS II in der stillgelegten Soudan-Eisen-erzmine im Norden des US-Bundesstaates Minnesota. Der Detektor funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip wie Edelweiß und Cresst und galt noch vor drei Jahren als der große Favorit im Rennen um den einwandfreien Nachweis der Dunklen Materie. Die Vorversuche in einem Keller unter dem Campus der Stanford University waren vielversprechend verlaufen. Dann aber waren die Arbeiten in der Mine wegen technischer Schwierigkeiten hinter den Zeitplan zurückgefallen.
DIE WISSENSCHAFTLER kämpften mit dem Problem eines Spezialkühlschranks, der das Experiment auf den Bruchteil eines Grades über dem absoluten Nullpunkt kühlen soll. Anstatt das Litfaßsäulen-große Gerät vorab im Universitätslabor zu testen, hatten sie es gleich in der Mine zusammengeschraubt. Dann stand der fertige Apparat 800 Meter unter der Erde, und die Temperatur schwankte so stark, dass Messungen mit der gebotenen Präzision unmöglich waren. Um das Problem zu beheben, reisten die Wissenschaftler in wechselnden Schichten aus Kalifornien nach Minnesota. Wenn ihnen unter Tage elektronische Bauteile oder Werkzeuge fehlten, mussten sie sich die fehlenden Geräte von einem Kurierdienst liefern lassen. "Alles, was wir hier tun, dauert viermal länger als in einem gewöhnlichen Labor", sagt Cabrera. Inzwischen konnte das CDMS-Team wieder Boden gut machen und im letzten halben Jahr wertvolle Daten sammeln. DIE JAGD NACH der Dunklen Materie läuft auf vollen Touren. Und die Jäger streben dabei nicht nur nach tieferer Erkenntnis. Es geht ihnen auch um die Anerkennung ihrer Mühen, um den Eintrag ins Geschichtsbuch, im glücklichsten Fall um den Nobelpreis. Und wenn dieses Ziel zwischendurch weit entfernt scheint, geht es ihnen manchmal einfach nur darum, den Fachkollegen eins auszuwischen. "Mir persönlich gefällt dieses Konkurrenzdenken überhaupt nicht", betont Wolfgang Rau. Der junge Physiker von der Technischen Universität München hat nach der Doktorarbeit im amerikanischen CDMS-Team gearbeitet, bevor er nach Deutschland zurückkehrte. "Unsere Experimente werden von vielen Physikern noch immer für exotisch gehalten", sagt er. "Wenn wir langfristig weiterfinanziert werden wollen, dann müssen wir zusammenarbeiten und die Wimps in mehreren Untergrundlabors gleichzeitig nachweisen." Sonst werden letztlich nicht diejenigen die Nase vorn haben, die sich bemühen, die Partikel geradewegs einzufangen, sondern womöglich jene, die einen Umweg einschlagen und nach indirekten Belegen für den mysteriösen Stoff fahnden. Mitten im Hochland von Namibia, 100 Kilometer südwestlich von Windhoek, zwischen sanften Hügeln und dem trockenen Gestrüpp von Kameldornbäumen, recken sich - abenteuerlichen Achterbahnen gleich - vier feuerrote Stahlstrukturen in den Himmel. Deutsche Astronomen haben hier die Teleskope des "Hess"-Projekts errichtet. Hess steht für High Energy Stereoscopic System und ist zugleich eine Hommage an Viktor Hess, der 1911 die kosmische Strahlung entdeckte. Die mächtigen Schüsseln, jeweils mit 380 Spiegeln bestückt, können sehr energiereiche elektromagnetische Wellen, so genannte Gammastrahlung, "sehen".
Von seinem Standort auf der Südhalbkugel der Erde aus kann Hess direkt ins Zentrum der Milchstraße schauen. Nach der gängigen Theorie sind Wimps dort besonders dicht gepackt. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass zwei kollidieren und sich gegenseitig vernichten - unter Aussendung greller Gammablitze mit einer charakteristischen Energie. Diese Lichtpulse hoffen die Astronomen mit den Teleskopen nachzuweisen und damit die Existenz der flüchtigen Geister mittelbar zu belegen.
Neben der elektromagnetischen Strahlung gebiert die Selbstzerstörung der Wimps noch ein weiteres Produkt, anhand dessen Astrophysiker auf sie zurückschließen könnten: Neutrinos. Aber anders als die gleichmäßig über den Raum verteilten Neutrinos sollten die aus Wimp-Kollisionen hervorgegangenen Exemplare geballt aus jenen Regionen des Alls kommen, in denen sich die Dunkle Materie häuft - etwa im Innern unserer Sonne.
UM DIESE NEUTRINOS zu "sehen", bauen Physiker Teleskope, die mit Fernrohren und Parabolspiegeln außer dem Namen nichts gemein haben. Sie bestehen aus Hunderten kugelförmiger LichtDetektoren, die über ein großes Volumen verteilt werden und so den Weg der extrem leichten Partikel aus dem Kosmos vermessen können. Genau genommen erkennen die Instrumente allerdings nicht das Neutrino selbst, sondern ein Elementarteilchen namens Myon, das sich verhält wie das Elektron, nur zweihundertmal schwerer ist. Das Myon entsteht beim Aufprall eines energiereichen Neutrinos auf einen Atomkern und erzeugt auf seiner Flugbahn eine Spur blauen Lichts - ähnlich der Bugwelle eines Dampfers, der durchs Wasser pflügt. Und dieses typische Licht wird von den Kugel-Detektoren eingefangen und verstärkt. Die derzeit größte Teilchensonde heißt "Amanda" und steckt im antarktischen Eisschild, nahe der amerikanischen Südpolstation. Die Installation ähnelt einem gigantischen Kronleuchter mit mehr als 200 Meter Durchmesser: Wie Glaskristalle am Lüster hängen Medizinball-große Messkugeln an langen Schnüren untereinander im Eis. Analog den Gesteinsmassen über den in Minen und Tunnels versteckten Experimenten soll hier die mächtige Schicht gefrorenen Wassers störende Strahlung aus dem All schlucken. Zur Platzierung der Detektoren bohren die Physiker mit einem Schlauch, aus dem heißes Wasser strömt, kilometertiefe Löcher und lassen die Kugeln an den vorgesehenen Stellen festfrieren. Bislang haben sie an 19 Strängen nahezu 700 Messsonden positioniert. In den kommenden antarktischen Sommern wollen sie das Projekt erweitern und insgesamt 4800 Nachweisgeräte über ein Volumen von einem Kubikkilometer verteilen. Dieses gigantische Netzwerk namens Ice Cube soll auch Dunkle Materie nachweisen, die sich in der Sonne angesammelt hat. "Wenn die Wimps sich gegenseitig vernichten", erklärt Christian Spiering vom Forschungszentrum Desy in Zeuthen bei Berlin, "kämen die Neutrinos direkt aus dem Sonneninnern herausgeschossen und würden dann in unseren Detektoren eine Spur hinterlassen." Aber womöglich entscheidet sich der Wettlauf um die Lösung des Dunkle-Materie-Rätsels auch ganz woanders: am Genfer See. Dort soll 2007 der Welt größter Teilchenbeschleuniger, der Large Hadron Collider (LHC), in Betrieb gehen. Die rund 6000 Wissenschaftler, die am Bau dieser Megamaschine beteiligt sind, wollen Atomkerne mit irrsinnigen Energien aufeinander schießen und so Bedingungen wie kurz nach dem Urknall erzeugen. In dieser Partikel-Ursuppe sollen noch unbekannte Elementarteilchen aufscheinen - darunter auch die Wimps. Mit dem LHC geht es keineswegs nur um die Jagd nach der Dunklen Materie. Die Physiker sind auf der Suche nach einer Weltformel, die alle Kräfte und Teilchen in der Natur erfasst. Bislang haben sie das so genannte Standardmodell der Teilchenphysik vorzuweisen. Dieses schließt neben den kleinsten Bausteinen der Materie, zu denen unter anderem die Quarks, Elektronen und Neutrinos gehören, lediglich drei der vier fundamentalen Naturkräfte ein: die elektromagnetische Kraft, welche die Wechselwirkung elektrischer Ladungen regiert; die Schwache Kernkraft, die dem radioaktiven Zerfall zugrunde liegt; schließlich die Starke Kernkraft, welche die Quarks zu Protonen und Neutronen zusammenschweißt.
ES FEHLT EINE BRÜCKE zur vierten Kraft, der Gravitation. Außerdem enthält das Standardmodell rund 20 so genannte freie Parameter, die sich nicht aus grundlegenden Annahmen ableiten lassen. Die Wissenschaftler wünschen sich deshalb eine Erweiterung des Theoriegebäudes. Wimps wären nun kompatibel mit einem Standardmodell-Anbau, den die Physiker besonders attraktiv finden: die so genannte Supersymmetrie, kurz "Susy". Mit diesem Konzept könnten sie alle Kräfte auf eine Urkraft zurückführen - und sie gewännen durch die Eröffnung einer Art Spiegelwelt eine Vielzahl neuer Teilchen hinzu. Darunter ist laut Berechnungen auch das elektrisch ungeladene Neutralino, nicht zu verwechseln mit dem bereits im Standardmodell enthaltenen Neutrino-Wimp. Und eben dieses Neutralino gilt gegen-wärtig als der vielversprechendste Anwärter für die Dunkle Materie. Nach der Susy-Theorie erfüllt das Partikel alle Anforderungen: Es ist flüchtig, kalt und schwer. Es spricht einiges dafür, dass diese Teilchen, die - falls sie tatsächlich existieren - sehr bald nach dem Urknall entstanden sind, unser Universum heute dominieren: Wie Kosmologen berechnet haben, ist ihre Masse in etwa so groß wie die der unsichtbaren Materie. Die Neutralinos könnten somit das kosmische Puzzle vervollständigen.
Falls also den Jägern im Untergrund und den Partikelfängern im ewigen Eis die Trophäe versagt bleibt, ruht alle Hoffnung auf dem Teilchenbeschleuniger. Schlägt allerdings auch dieser Anlauf fehl, gibt es nur eines: Die Theoretiker müssen noch einmal ganz von vorn anfangen und das dunkle Kapitel des Universums neu formulieren.
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